Die Reise in die Dunkelheit
– wenigstens so lange, bis der Preis, den Wladlen für das Medikament aufgerufen hatte, vollständig abbezahlt war.
Passend zur gedrückten Stimmungslage wurde die Taschenlampe rapide schwächer. Ihr Lichtkegel leuchtete nur noch wenige Schwellen aus – Skelettstücke jenes gigantischen Organismus, der vor vielen Jahren abgestorben war und seinem Schöpfer selbst danach noch treue Dienste leistete.
»Schalt die Lampe aus«, murmelte der Junge. »Wir müssen Batterie sparen.«
Das Klicken des Schalters hallte gespenstisch durch den Tunnel. Im selben Augenblick verdichtete sich die Finsternis zu einer stofflichen, klebrigen Substanz, die sich auf den Händen und im Gesicht niederschlug . A n einem bestimmten Punkt wurde dieses Gefühl so unerträglich, dass Gleb sich über die Wangen fuhr. An seinen Fingern blieb grauer Schmutz zurück – Staub, der in Schwaden durch die Röhre zog.
Sie waren also nicht mehr weit von den Stollen der Sträflinge entfernt, von jenem größenwahnsinnigen »Roten Weg«, der sich als kilometerlanger Tunnel in Richtung Moskau erstreckte und das Resultat jahrzehntelanger, sinnloser Knochenarbeit war.
»Bald erreichen wir den Kontrollposten der Swjosdnaja «, sagte Gleb. »Ohne Papiere kommt man in die Station nicht rein, außer …«
»Nicht nötig«, unterbrach ihn Aurora. »Wir müssen nicht hinein, sondern nur dran vorbei.«
Na dann … Das erleichterte natürlich die Aufgabe . A ls vor ihnen eine grelle Lichtsäule aufflammte, kniffen die Kinder die Augen zusammen und blieben stehen. Ohne irgendwelche Kommandos abzuwarten, rief der Junge seinen Namen.
»Wen hast du dabei?«, erwiderte jemand hinter der Barriere.
»Die Herzdame!«, improvisierte Gleb.
»Bist du nicht noch ein bisschen jung für solche Techtelmechtel?«
Der von chronischer Langeweile geplagte Wachposten ließ sich bereitwillig auf das Geplänkel ein.
»Doch nicht meine. Die von Pachom! Sie sagt, sein Vergnügen hätte er gehabt, aber dann vergessen zu zahlen. Jetzt sucht sie ihn.«
Vom Kontrollposten drang heiseres Gelächter herüber.
»Und der Herr Nachwuchszuhälter bekommt einen Anteil?«
»Nö. Ich habe zufällig denselben Weg. Schalt den Scheinwerfer aus. Mir tränen schon die Augen!«
Kichernd schalteten die Wachmänner das Licht aus. Halb blind tasteten sich die Kinder voran. Vorbei an blassrosa Transparenten mit Hammer und Sichel gelangten sie in den innerstationären Bereich des Tunnels. Wie Gleb vermutet hatte, erwies es sich als relativ leicht, an der Station vorbeizukommen. Das hiesige Wachpersonal sah ihn nicht zum ersten Mal, und seine Bekanntschaft mit dem prominenten Waffenhändler öffnete ihm zusätzlich Türen und Tore.
Ängstlich schielte Aurora auf die Stationstüren entlang der linken Tunnelwand und drängte sich eng an ihren Begleiter. Durch die Schiebetüren drang ein vielstimmiger Gesang, und als die Musik auf einmal abbrach, hallte ein dreifach donnerndes Hurra durch den Tunnel. Das Mädchen zuckte vor Schreck zusammen.
»Keine Angst, das ist nur eine Propagandabrigade«, erklärte der Junge. »Die hat jeden Tag vor dem Mittagessen ihren Auftritt.«
»Soll das ein Gebet sein?«
»Keinen Schimmer. Du hast dich doch mit Geschichte befasst.«
»Der Kommunismus ist utopisch. Die Postulate, die ihm zugrunde liegen, sind unwissenschaftlich …«
»Sag bloß diesen Spinnern nicht, dass sie unwissenschaftlich sind. So schnell kannst du gar nicht schauen, wie du dann in Ketten liegst. Und dann darfst du am Roten Weg mitschaufeln.«
»Warum setzen sie Gefangene dafür ein und graben nicht selbst?«
»Das sind keine Gefangenen, sondern sogenannte ›Schwererziehbare‹. Die Kommunisten haben da so einen Leitspruch. Wie ging er noch …? Ah, jetzt weiß ich’s wieder: Arbeit veredelt den Menschen. «
»Und, haben sie schon viele umerzogen?«
»Ehrlich gesagt, mir ist noch keiner untergekommen. Der Weg aus den Stollen ist eine Einbahnstraße und endet immer in den Kremationsöfen der Leichengräber.«
Die gegenüberliegende Grenze der Swjosdnaja wurde wesentlich strenger bewacht als der nördliche Kontrollposten. Der Tunnel war vom Boden bis zur Decke mit einem Gitter aus dicken Stahlstäben abgesperrt. Mehrere Feuerpunkte, eine verstärkte Brustwehr und Stacheldrahtverhau bildeten einen zuverlässigen Schutz sowohl vor den Gefangenen als auch vor ungebetenen Gästen von der Oberfläche.
»Wo wollt ihr hin?!«, bellte ein Wachmann, doch als er den Jungen erkannte, entspannte er
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