Die Reise in die Dunkelheit
Krankenbett. Ein schlaksiger Arzt mit Brille hielt das Handgelenk des Patienten und versuchte, den Puls zu fühlen. Dann ließ er den Arm los und fuhr mit der Hand über Nikanors Gesicht. Dabei drückte er ihm die Lider zu . A n Gleb gewandt, schüttelte er nur ohnmächtig den Kopf und deckte den Leichnam mit einem Leintuch zu.
An das, was danach kam, hatte der Junge nur eine schemenhafte Erinnerung. Sie saßen lange bei Palytsch und tranken Pilztee. Der Alte versuchte, ihn zu trösten und wenigstens ein bisschen aufzumuntern.
Aurora saß mitfühlend neben Gleb und schwieg. Sie wusste, dass seinem Kummer mit Worten nicht beizukommen war. Er musste diesen Schmerz durchleiden und überwinden.
Der Alte sah das offenbar anders. Er palaverte ohne Unterlass. Über die Ernte, über den Handel, über die neuen Stromtarife, über die kürzlich von den Masuten verlegte Telefonleitung zur Primorski-Allianz. Und er erging sich im neuesten Tratsch über die Bewohner der Station.
Gleb hörte nur mit einem Ohr hin. Nikanors dankbares Lächeln kurz vor seinem Tod ging ihm nicht aus dem Kopf. Erst als die Sprache auf seine früheren Spielkameraden kam, erinnerte er sich an Nata, das hinkende Mädchen aus der Nachbarschaft. Sie hatte er beim Rundgang über den Bahnsteig nicht gesehen.
»Dann weißt du also nichts davon?« Palytsch sank in sich zusammen und mümmelte greisenhaft mit den Lippen. »Nata und ihre Mutter waren unter den Ersten, die auf die Insel übergesiedelt sind. Demnach leben sie jetzt nicht mehr. Was für ein Unglück …«
Schweigend nahm Gleb den nächsten Schicksalsschlag hin. Womit hatte er das verdient? Wie hätte er denn ahnen sollen, dass der arglose und verständliche Wunsch, das Gelobte Land zu finden, in einer fürchterlichen Tragödie enden würde, bei der das Leben Unschuldiger im Feuerball einer Kernexplosion ausgelöscht wurde? Als er realisierte, dass er am Tod Hunderter Menschen indirekt beteiligt war, packte ihn blankes Entsetzen.
13
REISE IN DIE DUNKELHEIT
»Gleb … Gleb … Was ist mit dir? Sag doch was! Gleb!«
Der Junge hob den Kopf und schaute mit leeren Augen durch seine Weggefährtin hindurch. Er war irgendwo ganz weit weg.
»Ist dir schlecht?« Aurora wuselte hilflos um ihn herum und zog ihn am Ärmel. »Tut dir irgendwas weh?«
Gleb nickte und fasste sich an den Hemdkragen. »Irgendwas« tat weh. Im Prinzip hatte das Mädchen den Nagel auf den Kopf getroffen. Denn wie hätte man es genauer beschreiben sollen – dieses beklemmende Gefühl, das den Brustkorb zerriss, den Atem blockierte und jeden klaren Gedanken abwürgte? Diesen bohrenden, brennenden Schmerz, der an nichts festzumachen war und den man weder mit Medikamenten lindern noch chirurgisch entfernen konnte. Ein Schmerz, der in jenem Organ des menschlichen Körpers steckte, dessen Existenz die Ärzte hartnäckig bestreiten: in der Seele.
Der Junge hielt es für besser, seiner Weggefährtin nicht zu erklären, warum er sich so elend fühlte. Er befürchtete, Aurora zu überfordern, wenn er sie in die Einzelheiten der Geschichte mit der Insel einweihte und ihr von den Schuldgefühlen erzählte, die ihn deswegen quälten. Es hätte noch gefehlt, dass seine Schwermut und Apathie sich auf die empfindliche Seele des Mädchens übertrugen und sie in dasselbe schwarze Loch von Verzweiflung und Ausweglosigkeit stürzten.
Eine Zeit lang gingen sie schweigend weiter, und jeder hing seinen Gedanken nach.
»Weißt du was …«, begann Aurora von Neuem. »Wenn du mir schon nicht sagen willst, was los ist, dann lauf wenigstens nicht mit so einer Leidensmiene herum. Du bist nicht der Einzige hier, dem es schlecht geht! Wie soll man sich auch anders fühlen in dieser Kloake?! Überall nichts als Leiden und Tod . A ber das ist die Realität, mit der man leben muss! Also sei so gut und nimm dich zusammen!«
Gleb fuhr entrüstet herum, doch er traf auf einen unerwartet strengen, selbstbewussten Gesichtsausdruck . A uroras harsche Worte und ihre eiserne Miene erinnerten ihn an jene Episode, die am Anfang seiner Bekanntschaft mit dem Stalker stand . A ls er damals im Streit mit dem Dickwanst Procha Schwäche zeigte, hatte ihm Taran ähnlich schonungslos die Leviten gelesen. Nur dass die Probleme, die Gleb jetzt belasteten, unvergleichlich schlimmer waren als der Bubenstreit, um den es seinerzeit ging.
Aber wahrscheinlich hatte Aurora recht. Es war wohl besser, die finsteren Gedanken zu verscheuchen und mit der Selbstgeißelung aufzuhören
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