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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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vorbei führte er die Kinder zum Ende des Raums, schlug einen Stoffvorhang zurück und machte eine einladende Geste. Gleb bat Aurora, draußen zu warten, und trat ein.
    In mehrere Decken gehüllt, lag der Stationsvorsteher auf dem Krankenbett. Totenblasses, eingefallenes Gesicht. Trockene, aufgesprungene Lippen. Ein irrlichternder Blick, in dem sich schwere körperliche Qualen spiegelten. Flacher, stockender Atem an der Grenze der Wahrnehmbarkeit.
    Man musste kein Arzt sein, um zu verstehen, dass Nikanors Tage gezählt waren. Gleb trat an die Stirnseite des Betts . A ls der Kranke den Besucher bemerkte, drehte er den Kopf. Seine mit einem Grauschleier verhangenen Augen richteten sich auf das Gesicht des Jungen und musterten ihn.
    »Gleb … Du?«
    Die heisere, röchelnde Stimme hatte nichts mehr gemein mit dem donnernden Bass des früheren Nikanor, als er noch der zupackende und geschäftstüchtige Stationsvorsteher war. Man hatte den Eindruck, als würde zusammen mit dem schwachen Lufthauch, den der Sterbenskranke aus seinen Lungen presste, auch seine Seele entweichen und sich für immer verflüchtigen.
    Das Gesicht des Mannes war von einer Grimasse des Leidens verzerrt. In seinen Augen standen Tränen.
    »Verzeih mir, Gleb … dass ich dich damals weggegeben habe … Ich weiß auch nicht, welcher Teufel mich da geritten hat … Verzeih … Bitte, um Gottes willen …«
    Der Kranke bekam einen Hustenanfall und wand sich in Krämpfen. Der Junge drückte seine schauderhaft kalte Hand und nickte heftig mit dem Kopf.
    »Natürlich, Onkel Nikanor! Natürlich! Machen Sie sich nur keine Gedanken. Ich bin Ihnen überhaupt nicht böse. Ehrlich.«
    Eine herbeigeeilte Krankenschwester schob Gleb beiseite und kümmerte sich um den Patienten. Palytsch zog den Jungen sanft, aber bestimmt zum Ausgang . A ls Gleb sich noch einmal umdrehte, sah er im ausgezehrten Gesicht des Leidenden ein Lächeln, das voller Dankbarkeit war. Dann wurde der Vorhang vorgezogen und der Kontakt brach ab.
    Draußen im Gang lehnte sich der Junge an die Wellblechwand. Die Szene im Krankenzimmer hatte ihn tief erschüttert.
    »Was hat er?«
    »Sumpfteufel haben ihn gestochen«, erwiderte der Alte und zog eine Selbstgedrehte hervor. »Das ist so eine Mücke. Ein Moskito. Die Ärzte wissen sich nicht zu helfen. Eine anaphylaktische Reaktion, sagen sie. So was hätten sie noch nie erlebt. Wenn du mich fragst, sie haben Nikanor längst abgeschrieben. Weißkittel … unfähiges Pack …«
    Gleb fuhr auf und griff hektisch in seine Tasche. Das Fläschchen war an seinem Platz. Wirre Gedanken schossen ihm durch den Kopf, und ein Kloß im Hals nahm ihm die Luft.
    Was war das? Ein schier unglaublicher Zufall? Oder die nächste Bosheit des Schicksals, das ihn vor eine unmögliche Wahl stellte? Vor eine Wahl, bei der es nur falsche Entscheidungen gab.
    Nach allem, was er hatte durchmachen müssen, war der Gedanke, die Medizin Nikanor zu überlassen, geradezu absurd. Zumal der Stationsvorsteher der Moskowskaja schon mit einem Bein im Grabe stand – für eine Genesung gab es keinerlei Garantie . A ußerdem hatte Taran die Heilung zweifellos mehr verdient als der durchtriebene und herzlose Karrierist Nikanor.
    Auf der anderen Seite war der Stalker mit seinem Leiden bislang einigermaßen zurande gekommen und hätte sicher noch eine Weile durchhalten können. Jedenfalls so lange, wie es dauern würde, bei Wladlen eine neue Dosis des Präparats zu besorgen … Nur waren die Anfälle in letzter Zeit häufiger und schlimmer geworden. Der Junge wollte die Gesundheit seines Stiefvaters nicht aufs Spiel setzen.
    »Was bist du überhaupt für ihn? Was?«, redete Gleb in Gedanken auf sich ein. »Eine Ware! Eine unbrauchbare Ware, für die man besser ein Stück Schweinefleisch eintauscht. Geht’s noch?! Was gibt es denn da zu überlegen?«
    Aus der Krankenstation drang Lärm. Ein Arzt fluchte. Irgendwelche Glasgefäße fielen klirrend zu Boden. Die Krankenschwester stieß einen dünnen Schrei aus.
    Kurz entschlossen zog der Junge das eingewickelte Fläschchen aus der Tasche und rannte in die Krankenstation zurück. Palytsch versuchte, sich ihm in den Weg zu stellen, doch Gleb wich Haken schlagend aus. Beinahe hätte er den Alten über den Haufen gerannt.
    Eine Wand, eine Biegung, noch eine Wand, der Stoffvorhang am Eingang … Mit dem Fläschchen in der Faust stürmte der Junge hinein.
    »Medizin! Gebt ihm diese Me…«
    Die Krankenschwester stand mit gesenktem Kopf neben dem

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