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Die Reise in die Dunkelheit

Die Reise in die Dunkelheit

Titel: Die Reise in die Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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stürzte und mit beiden Händen an seinen fettigen Haaren zerrte. Während der Unbekannte versuchte, das Mädchen abzuschütteln, lockerte er seinen Würgegriff. Diesen Augenblick nutzte der Junge und erinnerte sich an das, was ihm Taran beigebracht hatte. Ein Schlag auf die Augen, dann auf den Adamsapfel – und die Hände des Angreifers lösten sich von seinem Hals.
    Röchelnd taumelte der Sträfling zurück und stolperte über das Mädchen, das ihn auflaufen ließ. Mit einem Kopfstoß in den Bauch verpasste ihm Gleb zusätzlich Schwung. Durch die Luft wirbelnde Beine, hilflos rudernde Arme, ein entsetzter Schrei … Der Mann fiel durch das Loch in den Schacht. Wie durch ein Wunder konnte er sich im letzten Moment am Rand festhalten.
    »Hilfe!«, wimmerte er kläglich, während sich seine Finger verzweifelt in den rauen Beton krallten.
    Das von Schmerz und Angst verzerrte Gesicht des Unbekannten rief Gleb eine Episode aus der Kronstädter Expedition ins Gedächtnis: der Liftschacht, das brodelnde Wasser irgendwo weit unten und der entgeisterte Blick von Farid, der seinem Tod entgegen in den Abgrund stürzte.
    Der Junge sprang herbei, packte den Sträfling am Kragen und versuchte mit aller Kraft, ihn wieder hinaufzuziehen. Der Mann krallte sich an ihm fest und scharrte panisch mit den Füßen an der Schachtwand. Nach und nach schob sich sein Oberkörper bis zum Bauch über den Rand. Nachdem das Schlimmste überstanden schien, hielten die beiden inne und starrten einander an.
    Gleb war noch gar nicht wieder zu Atem gekommen, als der Unbekannte, anstatt sich für die Rettung zu bedanken, ihn abermals am Hals packte. Mit aus den Höhlen tretenden Augen und gefletschten Zähnen versuchte er, sein Opfer zu erwürgen. Im Blick des Rasenden lag nichts Menschliches mehr, nur animalischer Zorn und … Verzweiflung?
    Aurora, die das Geschehen aus nächster Nähe verfolgt hatte, kam ihrem Weggefährten zu Hilfe.
    »Lass ihn los! Hörst du?! Lass ihn sofort los!«
    Ihre Kinderfäuste trommelten auf den Rücken des Sträflings, doch der dachte überhaupt nicht daran loszulassen, sondern zog den sich verbissen wehrenden Jungen immer näher zu sich heran. Wut und Ausweglosigkeit hatten den Mann ausrasten lassen und eine sinnlose Mordlust in ihm geweckt. Töten! Alles Essbare mitnehmen! Endlich den quälenden Hunger stillen!
    Den Schatten, der sich über ihn legte, bemerkte der Sträfling zu spät und er reagierte nicht mehr auf den Schrei des Mädchens, das einen großen Steinbrocken in die Höhe gestemmt hatte. Er spürte das weiche Fleisch unter seinen Fingern und konnte nicht mehr aufhören.
    Mit zusammengekniffenen Augen schmetterte Aurora den Steinbrocken auf den Kopf des Mannes. Dessen Körper erschlaffte augenblicklich und seine Hände lösten den tödlichen Griff. Seines Halts beraubt, rutschte der Sträfling lautlos in den Schacht . A m Boden blieb eine Blutspur zurück. Kurz darauf ertönte ein hallendes Klatschen: Der Unbekannte war für immer im Schlund seines steinernen Grabs verschwunden.
    Während Gleb noch um Atem rang, hörte er ein leises Schluchzen und hob den Kopf . A urora hatte den Steinbrocken weggeworfen und starrte auf ihre blutbespritzten Hände.
    »Mein Gott … Ich habe ihn umgebracht«, stammelte sie hysterisch. »Ich … habe einen Menschen umgebracht …«
    Der Junge stand auf, riss einen Fetzen Stoff von seinem Hemd ab und reichte ihn seiner Weggefährtin.
    »Da. Wisch dir die Hände ab. Und versuch dich zu beruhigen. Der Mensch in dem Kerl war schon lange tot. Er war nur noch eine leere, seelenlose Hülle.«
    »Ich …«
    »Du hast völlig richtig gehandelt. Sonst würden wir beide jetzt dort unten liegen . A lso nimm dich zusammen und sag, wo es langgeht, bevor uns noch jemand aufstöbert nach dem ganzen Lärm hier.«
    Schwer zu sagen, was das Mädchen mehr beeindruckte – Glebs aufmunternde Worte oder die drohende Gefahr neuer unliebsamer Begegnungen. Jedenfalls hörte sie zu zittern auf, schniefte noch ein paarmal und näherte sich dann vorsichtig dem Abgrund.
    »Halt mich mal …«
    Während Aurora sich mit einer Hand an Gleb festhielt, tastete sie mit der anderen hinter den oberen Rand des Durchbruchs im Schacht.
    »Da ist sie!«
    Von oben fiel eine sich abwickelnde Strickleiter herab, die hinter einem Vorsprung verborgen gewesen war.
    »Anscheinend bist du nicht die Erste, die diesen Weg benutzt«, konstatierte Gleb verblüfft. »War vor dir schon mal jemand aus Eden hier?«
    Aurora

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