Die Reise ins Licht
halbnackte Mann fortrannte und dabei seine kurzen, knorrigen Beine komisch anzog.
Ein langes, angespanntes Heulen erschütterte die Umgebung. Von den Sümpfen her gluckerte es, und giftige Dämpfe traten dort hervor.
Schaman bekreuzigte sich. »Vielleicht sollten wir hier unten übernachten? Ich habe keine Lust, hier in der Dunkelheit herumzulaufen wie ein blinder Welpe.«
»Mir gefällt es hier auch nicht. Nicht weit von hier ist der Konstantin-Palast Ref. 22 . Die Keller dort sind gedämmt, sollten
also trocken sein. Dort bleiben wir über Nacht.« Taran ging in den Regen hinaus.
»Worauf wartet ihr? Vorwärts!«, trieb Kondor die Stalker an.
Sie verließen die Makarow-Akademie. Gleb folgte seinem Meister. Die Begegnung mit dem missgestalteten Mann hatte seine Laune getrübt. Was, wenn die Einwohner der fernen Stadt das gleiche Los ereilt hatte? Wenn anstelle der früheren Bewohner schwachsinnige, degenerierte Wilde in den verlassenen Elendsvierteln hausten? Der Junge zermarterte sich den Kopf.
In seiner Tasche lag jetzt jedoch neben dem Feuerzeug dieses alte Foto. Und dieses Foto forderte von Gleb, die Suche fortzusetzen.
6
DER SYMBIONT
Der Konstantin-Palast empfing seine Besucher mit eisiger Gleichgültigkeit. Seine frostigen Keller schützten zwar vor dem Unwetter, waren aber – im Gegensatz zu den »tropischen Gefilden« der Untergrundbahn – kein wirklich geeigneter Rastplatz. Gleb, der sich vor Kälte zusammengekauert hatte, lauschte dem bedächtigen Gespräch der Erwachsenen.
»Also, vor der Katastrophe hat dieser Typ als Metrobauer gearbeitet«, erzählte Ksiwa gerade. »Einmal hatte er ganz schön einen sitzen, da hat er mir Folgendes gezwitschert: Genau hier drunter, sagt er, hat er an einem Regierungsbunker mitgebaut. Angeblich haben sie damals eine ungeheure Menge Leute zusammengetrieben. In drei Schichten wurden die Schächte gegraben. Ohne Pause. Und ihr Chef war …«
»Alles Quatsch !«, unterbrach Kondor. »Hier gibt es keinen Bunker. Wenn wir zurück sind, mache ich diesen Dummschwätzer persönlich ausfindig und rücke ihm den Kopf zurecht.«
»Klar, sag ich doch auch, dass er lügt, der Hund …« Verlegen wechselte Ksiwa das Thema. »Sag mal, Chef, vielleicht
sollten wir irgendwo einen Kutter auftreiben? Damit sparen wir uns sicher ’ne Menge Scherereien. Einsteigen, Motor an – und schon sind wir in Kronstadt!«
»Du hältst dich wohl für besonders schlau?« Schaman stellte eine Fleischkonserve auf den Feldkocher. »Wir haben mehrmals Erkundungsgänge gemacht, immer ohne Ergebnis. Nichts als verrottetes und rostiges Zeug. Wir wollten damals in den Trockendocks nachsehen. Als wir bei den Nordwerften ankamen, gab es da keine Docks mehr – die ganze Gegend war ein einziger Trümmerhaufen. Als ob eine Herde Nashörner drübergelaufen wäre. Keine Ahnung, was dort gescheppert hat, aber zu holen war da nichts mehr.«
»Ihr hättet beim ›Admiral‹ suchen sollen«, bemerkte Ksiwa gewichtig.
Schaman zuckte zusammen. »Hüte deine lose Zunge! Die Admiralitätswerften sind ein verbotener Ort. Ein Fluch lastet auf ihnen. Eine Menge fähiger Jungs sind dort umgekommen! Und bis heute weiß keiner, warum.«
»Es geht das Gerücht, dass die Leute verrückt werden, sobald sie das Pförtnerhaus durchquert haben …« Kondors Gesicht flackerte geheimnisvoll im Licht der Flamme.
»Du hast nicht zufällig was davon gehört, Taran?«
Gleb schaute seinen Meister an. Der lehnte halb sitzend an der Wand und hatte die Augen geschlossen. Nach kurzem Schweigen antwortete er:
»Da hausen die Irren …«
Es trat eine Pause ein. Die Stalker blickten mit Befremden auf ihren Wegführer. Schließlich brach es aus Nata heraus: »Wie bitte? Was für Irre? Davon höre ich zum ersten Mal.«
»Und hoffentlich auch zum letzten«, entgegnete Taran, drehte sich um und legte sich schlafen.
In dieser Nacht hatte Gleb zum ersten Mal in seinem Leben Nachtwache. Kondor fand, dass dieser »minderjährige Ballast« doch wenigstens zu irgendetwas nütze sein müsse, und wies den Jungen an, Okun abzulösen. Gleb hatte sich an einen rostigen Heizkörper gelehnt und gähnte herzhaft. Diese Nachtwache war nur aus Prinzip aufgestellt worden, denn die Stalker hatten den Eingang zum Keller vorsorglich verbarrikadiert. Zum Zeitvertreib beschloss Gleb, sich in den angrenzenden Räumen umzusehen. Neugierig griff sich der Junge eines der Nachtsichtgeräte. Das teure Spielzeug gehörte dem Kommandeur, doch Gleb
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