Die Reise ins Licht
zuckte einmal, dann noch einmal. Der Stalker
löste sich vom Visier und verschwand in einem Dachbodenfenster. Die Gefährten schlugen sich gerade durch den tiefen Graben, der den Prospekt kreuzte, als der Meister den Trupp einholte.
»Späher«, erklärte er Kondor. »Wenn man sie nicht erledigt, kommt das ganze Rudel herbeigelaufen. Jetzt kommen wir vielleicht unbemerkt an ihnen vorbei.«
Sie rückten weiter vor, bis auf einmal zu ihrer Linken eine hohe, wunderliche Anlage auftauchte, die stolz über die üppige Vegetation hinausragte. Gleb sah zum ersten Mal ein solches Wunder. Vier kleinere Türme umsäumten einen großen in der Mitte. Drei davon hatten sogar noch ihre Kuppel, deren ehemals vergoldeter Überzug mit der Zeit jedoch dunkel geworden war. Trotz des schmutzig grauen Belags auf den Wänden zog der feierliche rot-grüne Anstrich des Gebäudes die Blicke auf sich.
»Die Kathedrale der heiligen Apostel Peter und Paul Ref. 24 .« Taran schaute ehrfürchtig in die Höhe. »Sie hat den Krieg mit den Deutschen überstanden. Und dann auch noch die Katastrophe. Ein wahrhaft heiliger Ort.«
»Was sind Apostel?«, fragte Gleb leise.
Ischkari lebte auf und trat nach vorn.
»Bruder Saweli ist der Apostel des neuen Glaubens, des Glaubens des ›Exodus‹ an …«
»Halt dein widerliches Maul, du Gotteslästerer!« Außer sich packte Taran den Sektierer am Kragen, hob ihn in die Luft.
Als er bemerkte, dass Kondor ihn beobachtete, ließ er Ischkari wieder herunter. Sofort versteckte sich dieser hinter den Rücken der anderen Stalker.
Nata versuchte das Thema zu wechseln: »Diese Kathedrale ist wirklich so alt?«
»Der Grundstein ist noch zur Zeit der Zaren gelegt worden. « Der Wegführer blickte erneut auf die Anlage. »Im Großen Vaterländischen Krieg Ref. 25 hat sie ordentlich was abgekriegt. Sie wurde unter Beschuss genommen, weil ein deutscher Aufklärer von dort aus unsere Schiffe – und übrigens auch Kronstadt – ausspionierte.«
Es herrschte eine lange Pause. Danach blickten sich Kondor und Taran gleichzeitig an und gingen ohne weitere Worte zum Eingang. Gleb eilte ihnen nach, den anderen aber befahl Kondor, unten zu warten.
Es dauerte nicht lange, bis sie die Treppe ausfindig machten, die zu der Kolonnade führte. Die Gittertür, die den Aufgang einst versperrt hatte, lag verwaist auf den staubigen Stufen. Während sie immer höher hinaufstiegen, berührte Gleb die Wände des majestätischen Gotteshauses vorsichtig mit seinen Fingern. Die alte Kraft, die von dem Gebäude ausging, war fast greifbar. Welche Geheimnisse bargen diese schweigsamen Wände? Wie viel menschliches Leid würde dieses Gotteshaus noch erleben? Auf einem Wandstück, von dem der Putz abgeblättert war, erblickte Gleb einige Zeilen, die jemand mit kleinen schiefen Buchstaben dort hingeschrieben hatte.
»… da ward ein großes Erdbeben Ref. 26 , und die Sonne ward schwarz wie ein härener Sack, und der Mond ward wie Blut.
Und die Sterne des Himmels fielen auf die Erde, gleichwie ein Feigenbaum seine Feigen abwirft, wenn er von großem Wind bewegt wird.
Und der Himmel entwich wie ein zusammengerolltes Buch; und alle Berge und Inseln wurden bewegt aus ihren Örtern.
Und die Könige auf Erden und die Großen und die Reichen und die Hauptleute und die Gewaltigen und alle Knechte und alle Freien verbargen sich in den Klüften und Felsen an den Bergen …«
Weiter war der Text nicht zu entziffern. Sosehr der Junge auch auf die raue Oberfläche der Wand starrte, um mehr über jene schrecklichen Tage der Katastrophe zu erfahren, das Gotteshaus offenbarte es ihm nicht.
Gleb hatte mehrmals versucht, Palytsch darüber auszufragen, wie es passiert war. Aber der Alte hatte sich stets in Schweigen gehüllt und nur einmal einige magere Sätze aus sich herausgepresst über das Heulen der Sirenen, die Schreie, die Panik, über das Gedränge bei der Evakuierung, den Hunger und die Entbehrungen der ersten Monate unter der Erde. Palytsch mochte sich nicht daran erinnern. Vielleicht schmerzte ihn der Gedanke an seine verlorene Heimat zu sehr, oder es war sonst irgendwas. Von den Menschen sprach er dagegen öfter. Von denen, die mit ihren Fehden und Ambitionen die Welt an den Rand der Katastrophe gebracht hatten, oder denen, die von Panik ergriffen über die Köpfe der anderen in den rettenden Schoß der Untergrundbahn geklettert waren. Hart sprach er, böse – als grollte er der ganzen Welt. Nach solchen Gesprächen verschwand er immer
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