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Die Reise Nach Helsinki

Die Reise Nach Helsinki

Titel: Die Reise Nach Helsinki Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christiane Gibiec
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hinunter in das schwarze Grab
gestoßen, und ich klammerte mich weinend an Pekka, der wie
versteinert war. Unser Vater stand regungslos vor dem Grab und
verließ dann den Friedhof, von seinen Kindern hat er überhaupt
keine Notiz genommen.«
    Das Folgende erzählte Minna leise
und stockend, Anna und Lina mussten sich vorbeugen, um sie
verstehen zu können.
    Ihr Leidensweg begann kurz nach der
Beerdigung. Heikki befahl ihr, abends im Pelzlager aufzuräumen, er
folgte ihr und nötigte sie zu dem, was viele Mädchen von ihren
Vätern, Großvätern oder Onkeln erdulden mussten, wie Minna später
in ihren Frauengruppen erfuhr.
    »Ich war seine Leibeigene«,
flüsterte sie, »ich glaube, er zweifelte nicht im Mindesten daran,
dass er das Recht hatte, so mit mir zu verfahren.«
    Sie sagte Pekka nichts von den
Übergriffen, aus Scham, aber auch, weil sie wusste, dass es zu
einem fürchterlichen Eklat kommen würde, wenn er davon erfuhr. Das
ging zwei Jahre so, und Minna entwickelte mit der Zeit eine
Technik, sich aus ihrem Körper zu entfernen, wenn ihr Vater sie
missbrauchte. Sie konnte sich regelrecht abtrennen und aus einer
Ecke des Lagers zusehen, wie das Kind, das nicht mehr sie selbst
war, vor dem schnaufenden, schwitzenden, herrisch seine Hand auf
ihren Kopf pressenden Mann kniete.
    »Ich kann seitdem keine frisch
gegerbten Pelze mehr riechen«, sagte Minna, »allein der Gedanke
verursacht mir Übelkeit.« 
    Eines Tages, kurz vor Minnas
vierzehntem Geburtstag, stand plötzlich Pekka vor ihnen. Als er
erfasst hatte, was sein Vater mit seiner Schwester trieb, stürzte
er sich heulend und brüllend auf ihn. Er war nicht so groß und
schwer wie Heikki, aber er war geschickt und schnell und rasend vor
Wut. Er schlug den Alten, der gar nicht mehr dazu kam, seine Hose
zu schließen, zu Boden und boxte ihm mit der Faust immer wieder ins
Gesicht, immer wieder, bis er mit gebrochener Nase reglos in einer
Blutlache lag. Pekka trat ihm in den Unterleib und schrie, er habe
es nicht verdient, Kinder zu haben, er sei ein Verbrecher, ein
Kinderschänder, er werde ihn anzeigen. Dann nahm er Minna bei der
Hand und sagte: Wir gehen, kulta, komm mit nach Helsinki, ich bringe uns beide
durch, ich passe auf dich auf, alles ist besser, als mit einem
solchen Tier zu leben. Aber sie konnte es nicht, sie war gelähmt
vor Angst und dachte, dass sie ihren Vater nicht allein lassen
dürfe.
    »Das ist ja das Schlimmste an der
Erziehung, die uns angetan wurde«, stieß Minna heraus, »dass man
nicht wagt, sich dagegen aufzulehnen.«
    Pekka ging noch in der gleichen
Nacht, und Minna verarztete notdürftig ihren Vater, der es
ablehnte, nach dem Doktor zu schicken. Nach diesem Vorfall rührte
er sie nicht mehr an, allerdings kam ein Dienstmädchen ins Haus,
das in Minnas Alter war. Sie hieß Naimi, wie die Tante von Pekka
und Minna, war nach einem halben Jahr schwanger und gebar ein
kleines, zartes Mädchen, das kurze Zeit später starb. Auch weitere
Kinder, die sie gebar, ohne einen Vater anzugeben, starben, und
irgendwann ging sie, gebrochen und ausgezehrt wie Marjatta, da war
sie noch nicht einmal achtzehn.
    Als Minna gerade ihr Abitur gemacht
hatte, starb Heikki Salander plötzlich an einem Herzinfarkt. Minna
fand ihn zusammengesunken und mit blaurotem Gesicht an seinem
Schreibtisch, und das einzige Gefühl, das sich in ihr einstellte,
war grenzenlose Erleichterung. Sie verkaufte den Laden und ging
nach Helsinki, wo sie hörte, dass Pekka nach Deutschland
ausgewandert war. Mit ihrem Erbe konnte sie studieren und sich die
Dreizimmerwohnung am Engelsplatsen kaufen. Pekkas Anteil legte sie
auf ein Konto und gab ihn später Riikka, die damit ebenfalls
Studium und Wohnung finanzieren konnte.
    Es war kühl geworden, und Ulla
brachte Wolldecken, in die sie sich einwickelten.
    »In allen Kulturen scheinen die
Männer zu denken, sie hätten ein Recht, ihre Töchter zu
missbrauchen. Und alle kommen sie ungestraft davon, weil niemand
sich traut, es anzuzeigen. Und wenn doch mal eine den Mut findet,
dann glaubt ihr die Polizei garantiert nicht und tut so, als sei
sie selbst schuld. Immer wieder habe ich solche Geschichten
gehört«, empörte sich Lina.
    »Hast du deshalb nicht geheiratet?«
Anna forschte in Minnas Gesicht. Wie konnte man so einen Alptraum
verarbeiten?
    »Ich denke, dass es so ist, ich
glaube, ich konnte zu keinem Mann mehr Vertrauen fassen. Aber ich
bin ganz zufrieden damit, ich bin unabhängig, und ein Kind habe ich
ja trotzdem großziehen

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