Die Reise nach Orb - ein Steampunk-Roman (German Edition)
erreichen? Und wieso gab es zwei Fraktionen, die einander bekämpften? War der Geheimdienst gespalten? Es gab viele Fragen und keine Antworten, zu undurchsichtig war das Spiel. Immerhin hatten sie ihn nicht sofort umgebracht. Ein beachtenswerter Umstand in einer Welt, in der man zuerst schoss und dann Fragen stellte und in der ein Leben nicht viel zu gelten schien.
Martin trat ans Fenster und schaute hinaus. Sonnenstrahlen tauchten den oberen Teil der gegenüberliegenden Felswand in ein weißes Licht. Unter ihm, zwischen den Bäumen, entdeckte er ein Glitzern, vermutlich der Fluss aus dem Giftsee. Talabwärts, in der Ferne, stieg eine Rauchsäule in den Himmel. Vielleicht von einer der Waldsiedlungen. Was für eine seltsame Welt, welch eine eigenartige Natur!
Da hörte er hinter sich ein Knacken. Er ruckte herum. Jemand machte sich an der abgeschlossenen Tür zu schaffen. Sollte er sich einfach wieder aufs Bett legen und so tun, als sei er immer noch bewusstlos? Oder sollte er versuchen, den Eindringling zu überwältigen, sobald dieser durch die Tür trat? Martin sah sich rasch im Raum um, in dem er sich befand. Außer dem Bett und einer Kommode gab es kein Mobiliar und schon gar nichts, was ihm als Waffe hätte dienen können. Doch da fiel sein Blick auf eine weitere Tür, die er bisher übersehen hatte. Auf leisen Sohlen schlich er zu ihr. Sie ließ sich problemlos öffnen. Doch dahinter kam nur ein Badezimmer mit einer Dampfdusche zum Vorschein. Er beschloss, sich dort zu verstecken, und zog die Tür bis auf einen schmalen Schlitz zu, durch den er den Raum mit dem Bett beobachten konnte.
Klick – die Tür öffnete sich und eine Gestalt schlüpfte herein. Er konnte sie nur von hinten sehen, doch es war offensichtlich eine Frau. Knallrotes Haar, ein violettes Korsett, ein weinroter bauschiger Minirock und schwarze Strümpfe, die in Schnürstiefel steckten. Martin wunderte sich. Gehörte sie auch zum Geheimdienst von Orb?
Als sich die Frau umdrehte und geradewegs zur Badezimmertür blickte, hinter der er sich versteckte, stockte sein Herzschlag. Die Lady war nicht irgendeine Frau, es war eindeutig Isabelle, seine Stiefmutter. Martin hielt unwillkürlich den Atem an, aber er zögerte, die Tür aufzustoßen und sich zu zeigen. Etwas stimmte nicht. Wieso befand sich Isabelle in Victoria und wieso drang sie in das Zimmer ein, in dem er gefangen gehalten wurde?
»Hallo, Martin«, sagte Isabelle. »Du brauchst dich nicht zu verstecken.«
Jetzt hielt ihn nichts mehr zurück, er öffnete die Tür, stürmte in das Zimmer und fiel seiner Stiefmutter um den Hals.
»Isabelle, ich habe dich so vermisst«, sagte er leise und er konnte seine Tränen nicht zurückhalten. Sie kullerten auf die nackten Schultern seiner Stiefmutter.
Auch Isabelle hatte ihn umarmt, doch dann trat sie einen Schritt zurück, ergriff seine beiden Hände und blickte ihm ins Gesicht.
»Martin, ich bin so froh, dass du noch lebst. Doch jetzt ist nicht die Zeit, unser Wiedersehen zu feiern oder gar Geschichten zu erzählen. Wir müssen schleunigst von hier verschwinden.«
»Ja«, sagte er, »verschwinden wir, solange wir können.« Er wischte sich mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht und griff nach seinem Mantel und den anderen Habseligkeiten. Dann folgte er Isabelle durch die Tür. Sie mussten nochmals einen Raum durchqueren, bevor sie zu der eigentlichen Wohnungstür gelangten, die auf den Korridor hinausführte.
Auch jetzt war niemand zu sehen. Wo mochten all die Bewohner der Appartements jetzt sein? Waren sie bei der Arbeit oder in ihren Wohnungen?
Isabelle ergriff seine Hand und zog ihn nach rechts in den Gang hinein. Schon nach wenigen Schritten begann sie zu rennen. Erst bei einem Aufzug blieb sie stehen. Er besaß eine gläserne Tür, durch die man in die Kabine sehen konnte, und als sie davor standen, öffnete sie sich automatisch. Isabelle zog ihn in den Aufzug und drückte den Hebel neben der Tür nach unten.
»Wir fahren nach unten?«, fragte Martin.
»Ja, ich weiß dort ein sicheres Versteck für uns.«
»Ich will mich nicht bloß verstecken. Ich muss unbedingt Eliane finden. Sie ist wahrscheinlich in Gefahr.«
Erstaunlicherweise fragte Isabelle nicht, wer Eliane war. Sie schien Bescheid zu wissen.
»Das ist viel zu gefährlich. Der Geheimdienst von Orb ist hinter euch her, und wenn du nach ihr suchst, ist die Chance groß, dass du in eine Falle läufst. Vermutlich rechnen sie sogar damit, dass du nach ihr
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