Die Reise nach Orb - ein Steampunk-Roman (German Edition)
dann traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Natürlich! Das war es! In diesem Aufzug fuhren nur Mechanische und Hybride. Ja, vielleicht hatte Victoria gar keine gewöhnlichen Menschen als Bewohner. Er überlegte sich, was das bedeuten würde und welche weiteren Schlüsse daraus zu ziehen wären, doch da drängte sich ein anderer Gedanke dazwischen: Was war mit Isabelle? Sie war doch keine Hybride.
Er hatte den Hebel ganz nach oben gedrückt. In dieser Stellung hatte er auch gestanden, als er mit Isabelle den Lift betreten hatte. Als die Kabine anhielt und sich die Tür öffnete, standen zwei Ladies davor. Sie trugen beide Goggles, hochgeschlossene weiße Blusen und Korsetts. Ihre ausladenden Röcke berührten den Boden. Martin hatte seinen Armrevolver glücklicherweise während der Fahrt im Rucksack verstaut. Wer weiß, was geschehen wäre, hätten ihn die beiden Damen gesehen.
»Meine Damen, ich bin neu in Victoria. Können Sie mir sagen, wie ich zur Stadtverwaltung komme?«
»Selbstverständlich, mein Herr«, sagte die eine. »Nach dreihundert Fuß stadtaufwärts finden Sie einen Aufzug, der Sie direkt dorthin bringt. Raster vierundzwanzig.«
Martin bedankte sich und überlegte, was stadtaufwärts bedeuteten könnte. Nachdem die beiden Ladies in den Aufzug gestiegen waren, entschied er sich dafür, nach links zu gehen. Der Korridor war breit und mit dunkelroten Pflastersteinen ausgelegt. Die Wände waren mit Keramikplatten verkleidet. Dies war offenbar nicht die Etage, in der er nach dem Naglertreffer aufgewacht war. Aber er fand den anderen Aufzug auf Anhieb. Nach den Verzierungen auf der Glastür zu schließen, war er der gleiche, den er zuvor benutzt hatte, um in die Verwaltung zu gelangen. Doch wie sollte er Raster vierundzwanzig finden? Er schob den Hebel vorsichtig nach oben und zählte dabei die Rasterstellungen. Erstaunlicherweise war es einfacher, als er es sich vorgestellt hatte. Menschen waren also durchaus in der Lage, bei entsprechender Konzentration die richtige Etage einzustellen. Doch bequem war dieses Verfahren nicht, wenn man keine mechanischen Komponenten hatte.
WIEDERSEHEN
Der Lift hielt genau in der gewünschten Etage. Doch als sich die Tür öffnete und Martin das Vorzimmer der Stadtverwalterin betrat, stockte ihm der Atem. Die Sekretärin war auf ihren Stuhl gefesselt und blutüberströmt. Ihre Bluse war rot durchtränkt und auch der Schreibtisch vor ihr war voller Blut. Martin stellte entsetzt fest, dass ihr die Kehle durchgeschnitten war. Die zierliche Frau – Eleonore hatte sie geheißen – lebte nicht mehr. Obschon er von den Ereignissen der letzten Wochen abgehärtet war, wurde ihm schlecht. Hier waren absolut skrupellose Verbrecher am Werk gewesen, die keine Ehre und keine Moral kannten. Wahrscheinlich Piraten. Nur bei ihnen hatte er bisher eine ähnliche Brutalität erlebt. Nahe der Panik und mit zittrigen Händen öffnete Martin seinen Rucksack und holte die Waffe mit den roten Ampullen hervor. Rasch stülpte er sie über seine rechte Hand. In diesem Augenblick hörte er Stimmen aus dem Büro der Stadtverwalterin. Vorsichtig näherte er sich der Tür.
»Schneid ihr die Nase ab«, sagte ein Mann.
Martin gefror das Blut in den Adern und er erinnerte sich an den Piratenüberfall auf dem Giftsee. Offenbar waren die Kerle, die Eleonore umgebracht hatten, nun bei der Stadtverwalterin, und er hatte keinen Zweifel daran, dass sie auch diese umbringen würden. Wo war nur die Wache, von der die Verwalterin gesprochen hatte? Die Räumlichkeiten der Verwaltung schienen völlig unbewacht zu sein. Jeder konnte hier ein und ausgehen, wie es ihm beliebte.
»Oder wir schneiden ihr die Zunge heraus«, sagte eine andere Stimme. Doch da protestierte ein Dritter: »Idiot, dann kann sie nicht mehr singen. Zum letzten Mal, wo steckt die Eisprinzessin?«
Früher wäre Martin weggelaufen. Doch seine Erlebnisse auf Tiffany hatten ihn verändert. Er unterdrückte seinen Fluchtreflex und gab sich einen innerlichen Ruck, dann öffnete er lautlos die Tür zum Büro der Verwalterin.
Er hatte erwartet, auf eine Bande von Piraten zu treffen, doch die drei Kerle die auf dem großen Schreibtisch hockten, gehörten zu den Typen mit den Schlapphüten und den braunen Mänteln. Der Geheimdienst von Orb! Das hätte er nicht erwartet. Die drei hatten ihm den Rücken zugewandt. Vor ihnen war die Verwalterin auf einen Stuhl gefesselt. Ihr blaues Kleid war zerrissen und auch sie war blutüberströmt.
Weitere Kostenlose Bücher