Die Reise Nach Petuschki
... ja ... die wichtigste Frage ... Irgendwie geht mir Anton Tschechow im Kopf herum. Ja, und Friedrich Schiller auch, Friedrich Schiller und Anton Tschechow. Warum? Keine Ahnung. Doch, doch, jetzt hab ich's: Wenn Friedrich Schiller sich hinsetzte, um eine Tragödie zu schreiben, stellte er immer die Füße in Champagner. Doch nein, anders. Das war der Geheimrat Goethe. Der lief bei sich zu Hause immer mit Pantoffeln und Schlafrock herum ... Und ich? Ich laufe auch zu Hause ohne Schlafrock herum. Und auf der Straße mit Pantoffeln. Und was hat Schiller damit zu tun? Ach ja, das war es: Wenn Schiller gelegentlich Wodka trank, stellte er die Füße in Champagner. Er trank Wodka, die Füße in Champagner getaucht. Herrlich! Und Anton Tschechow hat vor seinem Tod gesagt: »Ich möchte was trinken. Und starb Pjotr stand über mir und sah mich unverwandt an. Schau mich nur an! Ich ordne meine Gedanken, und du kannst zuschauen ... Da war doch noch ein Hegel. Daran erinnere ich mich sehr gut: da war noch ein Hegel. Er sagte: »Es gibt keine Unterschiede, außer dem Unterschied im Grad, zwischen den verschiedenen Graden und dem Fehlen des Unterschieds. Übersetzt in eine gute Sprache, heißt das: Wer säuft heute nicht? Haben wir was zu trinken, Pjotr?«
»Nichts, alles ist ausgetrunken.«
»Und im ganzen Zug ist niemand?«
»Niemand.«
»So ...«
Ich wurde wieder nachdenklich. Seltsame Gedanken gingen mir durch den Kopf. Sie kreisten um etwas, das selbst um etwas kreiste. Und dieses Etwas war auch seltsam. Und die Seele war schwer... Was tat ich eigentlich in diesem Augenblick? War ich im Begriff einzuschlafen oder war ich im Begriff aufzuwachen? Ich weiß es nicht, und woher sollte ich es auch wissen? »Es gibt ein Sein, doch wie soll ich es nennen? Ist's Wachen oder Traum?« Ich döste so zwölf oder fünfunddreißig Minuten vor mich hin, und als ich wieder zu mir kam, war keine Menschenseele mehr im Abteil. Auch Pjotr war irgendwohin verschwunden. Der Zug donnerte weiter durch Nacht und Regen. Es war sonderbar, das Schlagen der Türen in allen Abteilen zu hören. Es war sonderbar, weil doch in keinem einzigen Abteil eine Menschenseele war ...
Ich lag da, wie eine Leiche, im eiskalten Schweiß, und die Angst fraß am Herzen und kroch höher ... »Kammerdiener!«
In der Tür erschien Pjotr. Sein Gesicht war blau angelaufen und böse.
»Komm näher, Pjotr, komm näher. Du bist ja auch ganz naß, wovon denn? Hast du eben mit den Türen geschlagen?«
»Ich habe mit gar nichts geschlagen. Ich habe geschlafen.«
»Wer hat denn dann mit den Türen geschlagen?«
Pjotr sah mich unverwandt an.
»Na ja, das macht nichts, das macht nichts. Wenn die Angst im Herzen wächst, muß man sie betäuben, und um sie zu betäuben, muß man etwas trinken. Haben wir was zu trinken?«
»Gar nichts. Alles ist ausgetrunken.«
»Und in der ganzen Welt ist niemand — niemand?« »Niemand.«
»Du lügst, Pjotr. Du lügst andauernd!!! Wenn da niemand ist, wer schlägt denn dann mit den Türen und Fenstern? Kannst du mir das sagen? Hörst du es? Wahrscheinlich hast du auch was zu trinken und belügst mich.«
Pjotr wandte seinen bösen Blick nicht von mir ab. Ich konnte an seiner Visage erkennen, daß ich ihm auf die Schliche gekommen war. Er war überführt, und nun fürchtete er mich. Ja, ja. Er fiel vornüber auf einen Kandelaber und löschte ihn mit seinem Körper aus. Und so ging er weiter durch das ganze Abteil, die Lichter löschend. Er schämt sich, er schämt sich, dachte ich. Doch er war schon aus dem Fenster gesprungen.
»Komm zurück, Pjotr«, schrie ich auf. Ich schrie so, daß ich meine eigene Stimme nicht wiedererkannte. »Komm zurück!«
»Halunke!« antwortete jemand durch das Fenster. Plötzlich kam er wieder ins Abteil hereingeflattert, auf mich zu, riß mich an den Haaren, vor, zurück und dann wieder vor. Das alles geschah mit erbitterter Bosheit. »Was ist los mit dir, Pjotr? Was ist los?«
»Nichts! Bleib! Bleib, wo du bist, Omi. Bleib hier, alte Kanaille! Fahr nach Moskau! Verkauf dort deine Sonnenblumenkerne! Ich kann nicht me-e-e-ehr ...!«
Er flatterte wieder hinaus, und diesmal für ewig.
»Zum Teufel, was soll das? Was ist mit denen allen los?« Ich preßte meine Schläfen zusammen und begann am ganzen Körper zu zucken und zu schlottern. Zusammen mit mir zuckten und schlotterten die Wagen. Ich begriff, daß sie schon lange vorher begonnen hatten, zu schlottern und zu zittern ...
Leonowo —
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