Die Reise nach Trulala
»Kostroma Mon Amour« hieß sie.
Nach zwei Monaten rief mich Alex an, genau wie Andrej prophezeit hatte. »Anna geht es wieder gut«, meinte er und erzählte mir dann, was sich in Paris abgespielt hatte: Die Band Aquarium war durch Frankreich getourt, und auch in Paris wollten sie ein Konzert geben. Anna wollte unbedingt dorthin. Sie baten ihre Nachbarn, auf die Kinder aufzupassen, und zogen los. Die Band hatte sich in all den Jahren kaum verändert, sie spielten viele alte Lieder, die unsere Freunde noch aus der Moskauer Zeit kannten. Nach dem Konzert schlug Anna vor, sie sollten Boris zu sich nach Hause einladen. »Ihr seid doch gute Kumpel gewesen«, meinte sie zu Alex. Der suchte den Sänger hinter den Kulissen auf, klopfte ihm brüderlich auf die Schulter und sagte: »Boris, alter Freund, du kennst mich vielleicht nicht mehr, aber egal, wir leben hier zwei Straßen weiter und möchten dich zu uns einladen.« Der Sänger hatte nichts mehr zu tun, dies war sein letzter Auftritt in Frankreich, und also gingen die Musiker zu Alex und Anna nach Hause.
Die ganze Nacht hockten sie zusammen, tranken und erzählten sich was. Am nächsten Tag fuhren die Musiker zurück nach Russland, aber Boris blieb in Paris. Er hatte keine Lust auf Moskau und fand außerdem seine Gastgeber wahnsinnig nett. Nun wohnten sie zu fünft in der Wohnung, und der Traum von Anna war plötzlich wahr geworden. Früher konnte sie immer nur die Stimme ihres Lieblingssängers hören. nun lagen auch noch seine stinkenden Socken überall in der Wohnung herum. Der Traummann selbst saß bis vier Uhr nachts in der Küche und wollte immer wieder mit Rotwein abgefüllt werden. Er qualmte selbst gedrehte Zigaretten und spielte Gitarre. Im Schlaf schnarchte er wie ein Elefant, und auf dem Klo ließ er die Tür offen.
Nach drei Tagen kam es zu einer ersten Auseinandersetzung zwischen ihm und Alex. Es ging um das Rauchen und unmäßige Trinken. Alex machte giftige Bemerkungen und bezeichnete den Sänger von Aquarium mehrmals als »Arschloch«. Boris blieb ihm die Antwort nicht schuldig und bezeichnete ihn als »Ziegenbock« und »Fettsack«. Ein paar Tage später wachte Anna auf und sagte ihrem Mann, dass ihr ein Unglück passiert sei. »Meine Seele ist gestorben«, meinte sie. Sie konnte sich nicht mehr mit dem Haushalt oder mit den Kindern befassen und bewegte sich wie hypnotisiert durch die Wohnung. Außerdem behauptete sie, sie könne den Menschen nicht mehr in die Augen gucken, weil sie befürchte, diese würden merken, dass ihr die Seele abhanden gekommen sei.
Den ganzen Tag lief sie mit gesenktem Blick durch die Gegend. Auf alle Fragen, was mit ihr los sei, antwortete sie nur, dass es sehr schwierig sei, ohne Seele zu leben, und dass sie auch ihren Körper kaum noch spüre. In der darauf folgenden Nacht versuchte sie, sich mit einem Badehandtuch am Bettgestell zu erhängen. Alex musste hilflos mit ansehen, wie sein sorgfältig aufgebautes Leben plötzlich aus den Fugen geriet und langsam zerbröselte. Schließlich rief er den Notarzt und ließ Anna ins Krankenhaus bringen. Den Aquarium-Sänger schmiss er samt seinen Socken aus der Wohnung, und wütend zertrümmerte er die Musikanlage. Am darauf folgenden Tag brachte er die Musiksammlung seiner Frau zur Post und schickte sie zu mir nach Berlin.
Anna verbrachte zwei Monate im Krankenhaus. Dort wurde ihr von den französischen Psychotherapeuten eine neue Seele verpasst. Alex musste in der Zwischenzeit allein auf die Kinder aufpassen. Als Anna nach Hause zurückkehrte, verhängte er ein Musikverbot über die Wohnung. Jeden Sonntag gingen sie nun in die Kirche, und dort fand Anna eine neue Erfüllung. Während ihres Krankenhausaufenthalts war sie gläubig geworden. Diesmal musste Alex sich keine Sorgen machen. Der liebe Gott lebt zwar bekanntlich in Frankreich, macht aber dort so gut wie nie Hausbesuche. Die beiden wurden mit der Zeit aktive Mitglieder der christlichorthodoxen Gemeinde von Paris.
Ich hatte sie seitdem nicht mehr wieder gesehen, wir hatten uns nichts mehr zu sagen. Aber jedes Mal, wenn Andrej und ich Aquarium hörten, dachten wir an die beiden und an Paris. Diese Stadt blieb für uns so für immer ein Phantom, nichts für Leute mit schwachen Nerven. Langsam verging uns sogar die Lust, dorthin zu fahren. Außerdem weigerte sich der Staat, uns weiter finanziell zu unterstützen, sodass wir selbst um unser Überleben kämpfen und Geld verdienen mussten.
Die ewige, oft erfolglose Jobsuche
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