Die Reise nach Trulala
um ihren Frauen Pelzmäntel zu kaufen, die schick aber teuer sind. Ohne Pelz geht dort gar nichts. Es ist wie mit der Burka in Afghanistan oder mit dem Halstuch und der Rentenversicherung in Deutschland: der Pelzmantel gehört in meiner Heimat zur weiblichen Grundausstattung. Eine Frau ohne Pelzmantel ist in Russland nur eine halbe Frau. Also gehen die Männer zur Arbeit. Nach wenigen Minuten an der frischen Luft begreift aber jeder, dass es so einfach nicht geht - man muss tanken. Wodka ist billiger als Tee und hilft gegen Kälte: 0,1 Liter kosten nur einen Euro. Für zwei Euro bekommt man noch ein Stückchen Zitrone oder eingelegten Knoblauch dazu. Diese Ration reicht für ungefähr eine Stunde, dann muss man sich erneut aufheizen. Auf diese Weise kommen die Männer über die Runden und manche bringen sogar Geld von der Arbeit nach Hause. Dann sind die Frauen dran: Sie ziehen ihre Pelze über und gehen auf den Markt, um einzukaufen.
Die gepelzten Frauen rollen wie große zottige Kugeln in die unterirdischen Ebenen der Moskauer Metro und verstopfen die Züge. Im Sommer passen auf eine Waggonbank gut und gerne acht leicht bekleidete Frauen, im Winter aber nur drei. Das sorgt für ständige Staus. In den Waggons vergleichen die Frauen dann ihre Pelze: Kaninchen sieht neben Fuchs billig aus und noch schäbiger wirkt Hund. Diejenigen, die Nerz oder Zobel tragen, schauen den anderen Passanten nicht einmal in die Augen - sie schotten sich ab und lesen während der Fahrt ein Buch, meistens Liebesromane mit einem Happyend. Aber auch die armen Frauen, die sich keinen Pelz leisten können, lesen während der Fahrt. Das Buch ist der geistige Wodka der russischen Frauen, ein Mittel, um sich von der Kälte und der allgemeinen
Trostlosigkeit oder eben Pelzlosigkeit des Lebens abzulenken. Es gibt aber auch noch Frauen, die weder einen Pelz noch ein Buch besitzen. Sie trinken Bier aus Flaschen, das ist in der Moskauer Metro nicht verboten. Der Alltag bietet von sich aus wenig Anlässe zum Feiern und Trinken, deswegen ist die Regierung in Russland permanent damit beschäftigt, neue Feiertage zu erfinden, um dem allgemeinen Anheizen durch Alkohol einen würdigen Anstrich zu verleihen. Besonders geschätzt werden die neuen Feiertage im Winter, weil er so hart ist. Alle haben sich zum Beispiel gefreut, als der 20. Dezember plötzlich zum nationalen Tag der Staatssicherheit erklärt wurde. An diesem Tag wurde vor vierundachtzig Jahren das Komitee der Staatssicherheit (WTsheKa) gegründet. Inzwischen haben fast alle Russen mit diesem Verein etwas zu tun gehabt, weil sie entweder für ihn gearbeitet haben oder von ihm verfolgt wurden. Deswegen konnte jeder russische Bürger auch mit diesem neuen Feiertag etwas verbinden. Bis zum Ende des Monats Dezember trank man immer wieder auf die Staatssicherheit.
Kurz vor Silvester saßen meine Frau und ich beim Frühstück im Speisesaal des Moskauer Hotels »Russland«. Zwei Männer neben uns bestellten je 0,1 Liter Wodka und reichlich Tee dazu.
»Auf unsere Männer bei der Staatssicherheit«, rief der eine und hob sein Glas.
»Und auf die Weiber!«, sagte der andere. »Ich meine bei der Staatssicherheit«, fügte er nach einer Pause hinzu.
Neben dem Lesen und Trinken ist das Fernsehen traditionell ein wichtiger Teil der Selbstbestimmung des Volkes. Im Fernsehen wird ständig erzählt, wie schlecht es den Menschen anderswo geht. Kurz vor Silvester trug der bekannteste Astrologe des Landes im ersten Kanal sein Welthoroskop vor: Es sah gar nicht gut aus. Alle würden untergehen, Amerika und Europa, sie würden ungeheuren Krisen ausgesetzt sein und daran scheitern. Nur Russland stand laut Horoskop eine glänzende Zukunft bevor - es wurde vom Astrologen als »Arche Noah« des neuen Jahrtausends bezeichnet. Viele Russen glaubten diesen Quatsch tatsächlich und freuten sich wie die Kinder. Aber auch viele Ausländer, darunter viele Deutsche, die ich in Moskau traf, waren genau wie Martin von den exotischen Lebensbedingungen in meiner Heimat fasziniert. Sie lieben die Extreme und benutzen Russland, um ihr Selbstwertgefühl zu steigern.
»Ich bin sehr widerstandsfähig«, sagte mir zum Beispiel ein Hamburger Fotograf stolz, den ich auf dem Roten Platz kennen lernte. »Deswegen kann ich in Moskau zwölf Monate am Stück verbringen.« Der Fotograf schätzte die einheimischen Bräuche und ließ sich gerne von russischen Frauen verführen, die allerdings bei fast allen Ausländern einen großen
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