Die Reise nach Trulala
beanspruchte viel Zeit und Geduld. Unsere erste mehr oder weniger gut bezahlte Arbeit in Berlin bestand darin, Werbeprospekte für die Firma Hofmann zu verteilen. Deren Büro befand sich genau gegenüber von Karstadt am Hermannplatz. Herr Hofmann hatte uns persönlich angesprochen, als Andrej und ich am Hermannplatz saßen und Bier tranken. Er bot uns eine angemessene Bezahlung für die nicht besonders anstrengende Arbeit an. Für zehn Kilo verteilter Prospekte war Herr Hofmann bereit, uns fünfzig Mark zu zahlen. Am nächsten Tag standen wir um sieben Uhr früh einsatzbereit im Treppenhaus vor seinem Büro, zusammen mit anderen Arbeitskollegen, die genau wie wir von weit her gekommen waren und einen Neuanfang in Berlin versuchten.
Unser Chef schätzte selbstständiges Denken bei seinen Mitarbeitern. Deswegen durfte jeder frei entscheiden, wo er die Prospekte verteilen wollte. Ich hatte mir bereits am ersten Tag einen passenden Ort dafür ausgesucht: Ich verteilte meine zehn Kilo zu gleichen Teilen an zwei große Mülltonnen am Ostbahnhof, die permanent von Jugendlichen angezündet wurden. Die Werbeprospekte stanken zwar beim Verbrennen fürchterlich, dafür konnte mir aber Herr Hofmann anschließend nichts anhängen. Nur einmal kam ich ins Schwitzen, als die Jugendbande, die ich eigentlich für meine Freunde hielt, die Mülltonnen umkippte und tausende von Werbeprospekten rund um den Ostbahnhof durch die Luft flatterten.
Mein verantwortungsbewusster und scheuer Freund Andrej mied die Öffentlichkeit und verteilte seine zehn Kilo deswegen immer bei sich zu Hause. Zuerst unter dem Bett, dann im Korridor und in der Küche, auf dem Klo, im Wohnzimmer und später einfach überall, bis die Prospekte die Zimmerhöhe in seiner Wohnung um einiges verringerten. Ich sagte ihm gleich, dass eine solche Arbeitsstrategie ihn in eine Sackgasse führen würde, er wollte aber nicht auf mich hören. Nach einem Monat nahmen die Prospekte bereits seinen gesamten Lebensraum in Anspruch. Für Andrej gab es in der Wohnung keinen Platz mehr. Er fühlte sich dem elenden Kampf mit den Prospekten nicht mehr gewachsen und wollte nicht weiter für Herrn Hofmann arbeiten. Aus Solidarität kündigte ich ebenfalls. Etwa dreihundert Kilo Werbematerial blieben jedoch als Andenken an unsere erste offizielle Arbeitsstelle in Deutschland auch weiterhin in Andrejs Wohnung - wahrscheinlich für immer.
Nachdem wir beide unseren Job als Prospekteverteiler bei Hofmann gekündigt hatten, wollten wir zukünftig seriöseren Tätigkeiten nachgehen und besorgten uns dazu regelmäßig die Zeitung »Zweite Hand«, bis unser Geld weg war. Zwei Wochen lang ging es uns richtig schlecht und wir lebten ausschließlich von Pommes frites. Unsere Sprachkenntnisse reichten noch nicht aus für eine Bewerbung um einen soliden Job. Die deutsche Sprache, die uns anfänglich so leicht und durchschaubar schien, erwies sich als mysteriös und gefährlich. Wir kannten zu diesem Zeitpunkt schon eine Menge Wörter und Redewendungen, auch mit der deutschen Grammatik waren wir grob vertraut und verstanden ohne Anstrengung alles, was im Fernsehen lief. Selbst auf der Straße und in den Geschäften redeten wir einwandfrei Deutsch.
Nur ein Haken war dabei: Einige Einheimische wollten uns nicht verstehen, sie boykottierten unsere Sprachkenntnisse. Sogar bei den einfachsten Sprüchen taten sie so, als hörten sie ihre eigene Muttersprache zum ersten Mal. Immer wieder kam es so zu unerklärlichen Pannen. So scheiterte Andrejs Vorhaben, in dem kleinen Lebensmittelladen nebenan einzukaufen, an dem eigentlich einfachen Begriff »Tomatensaft«.
»Tomatensaft«, sagte Andrej zum Verkäufer.
»Wie bitte?«, fragte der zurück.
»Tomatensaft, Tomatensaft, das kannst du doch von den Lippen ablesen: Tomatensaft!«, regte Andrej sich auf.
»Ich verstehe Sie leider nicht«, schüttelte der Verkäufer verständnislos den Kopf.
Andrej bebte anschließend vor Zorn. Einen ganzen Tag lang trainierte er das Wort »Tomatensaft« vor dem Spiegel. Danach ging er noch einmal in den Laden und versuchte es erneut. Der Verkäufer war nicht mehr da, hinter der Kasse stand jetzt eine nette Blondine und rauchte eine lange dünne Zigarette.
»Bitte, Tomatensaft«, sagte Andrej zu ihr und wurde rot wie eine Tomate.
»Was für einen Salat?«, fragte ihn die Blondine.
Mir passierte dann eine ähnliche Panne in demselben Laden mit »Marlboro-Leid«. Später beurteilten wir das Benehmen dieser einheimischen
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