Die Reise nach Trulala
ihrer Wohnung ein. Innerhalb von zwei Jahren bekam sie zwei Kinder, Alex wollte unbedingt vier. Aber auch so hatte Anna alle Hände voll zu tun. Doch das war Alex noch nicht genug. Er wollte sein persönliches Paradies noch stärker schützen und suchte nach einer radikaleren Lösung. So kam er auf die Idee, Russland zu verlassen und zusammen mit Frau und Kindern ins Ausland zu ziehen. Nichts schweißt die Menschen stärker zusammen als das Leben in einer fremden Welt. Weil er Künstler war, dazu noch Maler, fiel seine Wahl auf Paris.
»Meine Liebe, wir ziehen auf den Montmartre«, sagte er eines Tages beim Mittagessen zu ihr. Anna ließ diese Nachricht kalt. Mit Alex war sie bereit, sogar bis ans Ende der Welt zu gehen. »Zuerst fahre ich allein hin, um alles zu organisieren, dann komme ich zurück und hole dich und die Kinder«, so plante er. Anna hatte wie immer nichts dagegen einzuwenden. Sie küsste ihren Mann und meinte, er solle sie nicht allzu lange warten lassen. Dann schmiss sie eine Aquarium -Kassette in den Rekorder.
Der Papst fuhr nach Polen, und Alex kam ihm entgegen. In seiner Pilgergruppe hatte er sich schnell zum Hauptpilger hochgearbeitet. Als solcher trug er die Verantwortung für zwei Dutzend Gläubige, die auf seiner Liste standen. Er war der geborene Führer, seine Gabe, das Chaos um sich herum zu ordnen, kam den Pilgern zugute. Während alle anderen unter freiem Himmel schlafen mussten, organisierte Alex für seine Leute eine wunderbare Übernachtungsmöglichkeit in den Klassenzimmern einer polnischen Grundschule. Es war Sommer, die Schüler und Lehrer waren in die Ferien gefahren, und nur ein Wachmann, ein überzeugter Katholik, war geblieben. Er ließ sich von Alex überreden, die Pilgergruppe in die Schule zu lassen und ihr sogar die Schulküche zum Kochen zu überlassen. Die glücklichen und satten Pilger dankten es ihrem Gruppenleiter und begaben sich in die Klassenräume, um zu schlafen.
Während sie schliefen und vom Papst träumten, machte sich ihr Hauptpilger in der Nacht aus dem Staub. Er musste nach Paris. In einem Kloster, vierzig Kilometer von der französischen Hauptstadt entfernt, lernte Alex einen anderen russischen Maler kennen, der gerade aus Paris gekommen war und nun zurück Richtung Heimat pilgerte. Er erzählte Alex, dass man in Paris als Porträtmaler auf der Straße bis zu sechshundert Francs am Tag verdienen konnte, wenn man den richtigen Platz dafür fand. Er gab ihm ein paar Adressen.
Als Vertreter des antisozialistischen Realismus fiel es Alex nicht schwer, Porträts zu malen, in denen sich seine Kunden tatsächlich wieder erkannten. Er fing am Centre Pompidou an. Jeden Morgen stellte er seinen Klappstuhl zwischen zwei Chinesen auf, die mit Hieroglyphen handelten. Die Chinesen boten jedem neugierigen Touristen an, ihm seinen Namen auf Chinesisch zu schreiben. Sie hatten nichts gegen den russischen Künstler und offenbarten ihm sogar ihr Geheimnis: dass sie in Wirklichkeit oft statt der Namen einfach nur lustige Bemerkungen hinschrieben. »Oh, du Arsch!« und Ähnliches.
Manchmal arbeiteten sie auch zusammen: Alex malte ein Porträt, und die Chinesen unterschrieben es.
Alex verdiente am Centre Pompidou nicht schlecht, und sein Antrag auf politisches Asyl wurde von den französischen Behörden positiv aufgenommen. Aber das Geld reichte nicht, um seine Familie nach Paris zu holen. Alex träumte von einem Sitzplatz auf dem Berg. So nannten die Straßenkünstler Montmartre. Die Preise für Porträts waren dort dreimal höher als unten in der Stadt. Doch es war fast unmöglich, nach oben zu gelangen. Auf dem Berg saß seit Jahren die Elite des zeitgenössischen Porträtismus und hatte die Situation fest in der Hand. Neuankömmlinge waren unerwünscht.
Alle Völker und Kunstrichtungen waren auf dem Berg vertreten. Ein Jugoslawe war für die klassische italienische Malerei zuständig. Mit einem Pinsel in der Hand und einem Barett auf dem Kopf sah er auch tatsächlich aus wie Michelangelo. Der Jugoslawe war ein Showmaster: Er sprang rund um seine Staffelei herum, schrie »Bravissimo!« und fuchtelte mit dem Pinsel in der Luft. Malen konnte er nicht, trotzdem waren die Touristen von ihm begeistert. Auf dem Berg gab es auch einen taiwanesischen Künstler, der ein Glasauge hatte. Er malte immer ganz kleine Köpfe auf riesengroße Papierstücke und meinte, dies sei die traditionelle japanische Art. Für die russische Malerei war ein Pole zuständig, der seit zehn Jahren
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