Die Reise nach Trulala
sicher, dass seine Reise im ersten Dorf hinter der Grenze ein schreckliches Ende finden würde, und malte mir aus, wie die Jugendlichen in ihren gottverlassenen Dörfern auf diesen grinsenden Dicken und sein fünftausend Mark teures Fahrrad reagieren würden.
»Ich komme als Freund« und »Ich bin hungrig«: Natürlich werden sie ihn umbringen, allein um der sozialen Gerechtigkeit willen. Ich versuchte, Martin zu erklären, dass seine Friedensmission möglicherweise von den Eingeborenen als Beleidigung aufgefasst werden könnte und dass es dort massenhaft Orte gäbe, die man besser mied. Der Mann war jedoch nicht zu bremsen. Er hatte eine eigene Vorstellung von dem, was richtig und was falsch war. Wir mussten ihm helfen. Immerhin war Martin ein Freund von unserem Freund. Also nahm ich die Sache ernst.
»Du darfst niemals in Russland so etwas wie: >Gnädige Frau, darf ich bei Ihnen übernachten?< sagen. Du musst dich knapp und deutlich äußern. In einem Dorf suchst du nach einer armen alten Frau und sagst zu ihr: >Du, Hexe, willst du dir fünf Dollar verdienen?< Punkt.«
»Nein«, erwiderte Martin, er könne nur an das gute Herz der Leute appellieren, sie zu bezahlen würde sie nur beschämen. Dem Kerl war nicht zu helfen. Ich wollte ihm zumindest ein paar Schimpfworte beibringen, damit er nicht ganz ahnungslos war, wenn die Dorfbewohner ihn ansprachen. So gut ich konnte brachte ich ihm bei, wie »fette Schnecke« und »blöde Sau« auf Russisch klang. Danach machten wir einen Probelauf auf der Schönhauser Allee: Ich stellte die Dorfbevölkerung dar, und Martin fuhr mir auf seinem Fahrrad entgegen.
»Komm her, du schwabbeliges Fahrradwürstchen!«, rief ich laut auf Russisch. Er verstand und schaltete in einen höheren Gang. Es war ein guter praktischer Unterricht, und mir gelang es noch mehrmals, die Dorfbevölkerung glaubwürdig und realistisch darzustellen - mehrere Fußgänger sprangen erschreckt zur Seite. Martin fühlte sich jedoch ganz wohl. Ich sah für ihn keine Chance, lebend bis Sibirien zu kommen. Meine Frau hielt den Mann dagegen für einen Helden und seine Reise für ein »interessantes Projekt«.
»Im schlimmsten Fall kann er ja noch über Alaska nach Amerika flüchten«, meinte sie.
Wie immer, wenn bei uns in der Familie Meinungsverschiedenheiten aufkamen, schlossen wir eine Wette ab. Ich behauptete, dass Martin Swetlogorsk nie erreichen würde.
»Wir werden sehen«, meinte dagegen meine Frau, »wer weiß, wozu ein Bundestagsabgeordneter fähig ist.« Zwei Hundertmarkscheine landeten in einer Vase auf unserem Regal.
Martin fuhr gleich am nächsten Tag zurück in seinen Heimatort Heidelberg. Von dort, von der alten Brücke aus, gingen seine Weltreisen jedes Mal los.
Wir besuchten Thomas weiterhin regelmäßig in seinem Restaurant und fragten, ob er von Martin schon einen Brief bekommen hätte. Thomas schüttelte jedes Mal den Kopf. Er vermisste seinen Freund sehr und war traurig. Doch dann, nach etwa fünf Wochen, landete ein ganzer Stapel Briefe aus Russland in seinem Briefkasten. Wir sahen uns die beigelegten Fotos an und trauten unseren Augen nicht: Martin sah blendend aus! In seinen Briefen ließ er sich begeistert über die Gastfreundschaft und die Offenheit der polnischen sowie russischen Bauern aus. Überall hätte man ihn königlich empfangen. Besonders lobte er die vegetarischen Speisen: So viel und so gut habe er noch nie gegessen, schrieb er.
Die Dorfbewohner, so stellte sich heraus, hatten sich buchstäblich um den Ehrengast geprügelt. Jeder wollte den deutschen Radfahrer in seinem Haus haben. Nach vier Wochen hatte er das Uralgebirge erreicht, und sein Fahrrad gab den Geist auf. Das Radlager war kaputt und musste ausgewechselt werden. Bereits im nächsten Tal traf der Glückspilz auf eine deutsche Baubrigade, die mit einem Eisenbahntunnel beschäftigt war. Die Deutschen verfügten über eine direkte Verbindung zu ihrer Zentrale in Berlin: Einmal in der Woche flog eine Maschine hin und her, und nach nur drei Tagen hatte Martin ein neues Getriebe, mit dem er weiter nach Swetlogorsk fahren konnte.
Dort wurde er bereits erwartet: Der Bürgermeister ordnete zu Ehren des deutschen Gastes einen solchen Empfang an, dass die halbe Stadt sich danach arbeitsunfähig schreiben ließ. Sogar der Gast selbst, sonst ein eher zurückhaltender und nüchterner Mensch, hatte eine Überdosis Wodka abbekommen und spielte verrückt. Unter dem Einfluss von Alkohol hätte er beinahe die Tochter des
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