Die Reise nach Trulala
Staatsapparat macht ab und zu mal einen Fehler. Als Onkel Boris für seine ausgezeichnete Arbeit im Kautschukbetrieb zum zweiten Mal geehrt wurde, bekam er eine dreitägige Reise nach Paris geschenkt. Die Nachricht verbreitete sich schnell, und alle Nachbarn kamen, um sich von ihm zu verabschieden. Euphorisch stellten sie eine Liste von Geschenken zusammen, die Onkel Boris ihnen aus Paris mitbringen sollte. Er selbst hatte nur einen bescheidenen Wunsch, der ganz kindisch klang: sich in Paris auf dem Eiffelturm zu besaufen »wie ein König«. Alle lachten über seinen Traum.
Boris nahm einen Sack mit sowjetischen Konserven und ein russischfranzösisches Wörterbuch mit. Der Flug nach Paris dauerte sechs Stunden. Die ersten zwei Tage versuchte mein Onkel vergeblich, von seiner Gruppe abzuhauen. Jedes Mal, wenn sich alle unten im Aufenthaltsraum des Hotels versammelten, ging Onkel Boris aufs Klo und saß dort so lange es ging, in der Hoffnung, die Gruppe würde ohne ihn in die Stadt gehen. Doch als er herauskam, standen alle vor den Toiletten und warteten geduldig auf ihn. Danach fuhren sie zusammen mit dem Bus ins Zentrum, um Einkäufe zu erledigen.
Am dritten Tag hatte Onkel Boris endlich Glück. Während die Gruppe sich in einem Pulloverladen herumtrieb und die Reisebegleiter kurz den Überblick verloren hatten, hielt ein Bus direkt vor dem Laden. Ohne lange zu überlegen, sprang Onkel Boris hinein. Der Bus war fast leer, bis auf ein paar zerquetschte Franzosen. Eine Flasche Wodka und ein Sprachführer steckten in der Hosentasche meines Onkels. Nun musste er nur noch den Eiffelturm finden.
Der Busfahrer sah ihn freundlich an: »Salut, Russo turisto!«, begrüßte er ihn. Mein Onkel stutzte: Irgendwo habe ich den Mann schon einmal gesehen, dieses feiste Gesicht ohne Augenbrauen und dieses Grinsen, dachte er.
»Warst du schon mal in Kasachstan?« Mein Onkel holte den Sprachführer heraus: »Dou etesvous? Kasachstan?«
»No«, sagte der Busfahrer, »je suis de Marseille, kompre mua?«
»Ich habe dich schon mal gesehen«, wollte mein Onkel noch sagen, fand aber auf die Schnelle die passenden Wörter nicht. »Estce que nous allons passer devant la Eiffelturm?«
»Bien entendu«, sagte der Busfahrer und grinste wieder. Die Franzosen im Bus fingen ebenfalls alle an zu grinsen. Aus dem Fenster erblickte Onkel Boris den Eiffelturm.
»Bleib stehen«, rief er dem Busfahrer zu, »ich steige hier aus -
merci pourtout und bon voyage.«
»Pass auf dich auf, Opa«, murmelte der Busfahrer und zog die Bremse.
Mein Onkel sprang aus dem Bus. Vor ihm lag eine typische Pariser Gasse: In zwei kleinen Kneipen saßen die französischen Kaffeetrinker, die Hausfrauen gingen einkaufen, eine Oma schubste einen Kinderwagen vor sich her. Aus einem offenen Fenster hörte man Musik. Plötzlich streckte ein Mann seinen Kopf aus dem Fenster und rief etwas laut auf Französisch. Die gesamte Straße stand auf und ging schnell in Richtung Eiffelturm. Dort kamen schon die ersten Touristenbusse an. Auch ein Reisebegleiter aus der Gruppe meines Onkels war da. Er lief außer Atem zu ihm und schnappte ihn sich am Ärmel.
»Was soll der Scheiß? Wo wolltest du denn hin?« Seine Stimme wurde ganz hoch vor Aufregung.
»Nirgendwohin«, antwortete Onkel Boris. Auf einmal wusste er, wo er den Busfahrer schon mal gesehen hatte. Es war der Kerl, der ihn vor zwanzig Jahren jeden Morgen zur Arbeit gefahren hatte, als er noch Direktor gewesen war und in einem Erdbunker gelebt hatte. Am gleichen Tag flog die Gruppe nach Kasachstan zurück, den Wodka trank Onkel Boris nicht auf dem Eiffelturm, sondern in seinem Hotelzimmer, zusammen mit ein paar verdienten Arbeitern, mit denen er das Zimmer teilte, und einer kinderreichen Mutter, die zufällig dazugekommen war.
»Mag sein, dass ich in meinem Leben vieles verpasst habe, am falschen Ort zur falschen Zeit war und ungerecht bestraft wurde, aber immerhin - ich war in Paris! Und dieses Erlebnis werde ich mit ins Grab nehmen«, erzählte mir Onkel Boris stolz und lachte. Damals schien mir seine Geschichte absolut unglaubwürdig.
Erst Jahre später, nach der Perestroika, als immer unglaublichere Geschichten aus der dunklen Vergangenheit des Landes an die Öffentlichkeit kamen, musste ich meiner Meinung ändern. Ich las die Berichte von Augenzeugen, von Leuten, die »Paris« mit aufgebaut und jahrelang dort gelebt hatten. Auch viele Romane und Erzählungen wurden darüber geschrieben. So kam ich zu der Überzeugung,
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