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Die Reise nach Trulala

Titel: Die Reise nach Trulala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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dass mein Onkel Boris mir doch die Wahrheit erzählt hatte. Sein Paris war eine Stadt der Chimären, entstanden als eine Art ideologisches Kondom zum Schutz der Bevölkerung vor den faulen Reizen der westlichen Zivilisation. Solche Methoden funktionieren aber nie auf Dauer, die Wahrheit kommt früher oder später doch ans Licht.
    Das russische Paris wurde nicht älter als fünf Jahre. Ein schlauer holländischer Journalist stieß Ende der Siebzigerjahre während einer Russlandreise auf ein paar Fotos, die ihm eine junge Melkerin in einer Kolchose zeigte: Dort stand sie zusammen mit ihrer Mutter, einer verdienten Melkerin der Sowjetunion, unter dem Eiffelturm und lächelte in die Kamera. Dem Holländer kam der Eiffelturm auf den Fotos verdächtig sozialistisch vor. Er setzte die junge, naive Frau unter Druck und bot ihr schließlich sein wertvolles, jedoch auf einer Kuhfarm völlig nutzloses Diktiergerät im Tausch gegen die Fotos an. Der Holländer pries das Gerät als eine »ausländisch sprechende Maschine, ein wahres Wunder der Technik« an und riss dem Mädchen die Eiffelturmfotos praktisch aus der Hand.
    Eines davon erschien einige Monate später im Feuilleton einer holländischen Zeitung. Allerdings schenkte erst niemand im Westen der mit dem Bild verbundenen Geschichte Glauben, man hielt das Ganze schlicht für einen Witz. Doch der damalige Chef des Komitees für Staatliche Sicherheit, Andropow, fand das Foto in der ausländischen Zeitung überhaupt nicht lustig. Er befahl, das »Objekt Paris« innerhalb kürzester Zeit bis auf den letzten Stein abzureißen. Mehrere Bauarbeiterbrigaden des Verteidigungs- und des Innenministeriums waren am Abbau der französischen Hauptstadt beteiligt. Es musste schnell gehen, quasi über Nacht.Laut Augenzeugenberichten verbrauchte der Sicherheitsdienst mehr Geld für die Planierung von Paris als zuvor für den Aufbau der Stadt. Außerdem kamen infolge der überstürzten Abrissarbeiten viele wertvolle Gegenstände abhanden. Die ganze Pariser Ausrüstung blieb praktisch auf der Strecke, unter anderem über fünfhundert Fernseher der Marke Philips, mehrere hundert Kühlschränke, etliche Fahrzeuge, eine Unmenge von Türen und Fenstern. Trotz strengster Kontrollen verschwanden sogar ganze Häuser. Kurzum: Es wurde geklaut, was das Zeug hielt. Die Chefs der Staatssicherheit verfolgten die Diebe aber nicht weiter, sie wollten nur ihr Paris begraben und die Geschichte so schnell wie möglich der Vergessenheit überantworten.
    Im Nachhinein hatte der Untergang der Stadt sogar einen positiven Einfluss auf die Architektur vieler Dörfer in der südrussischen Steppe. Immer wieder wunderten sich Reisende über die schicken verglasten Türen und ungewöhnlich breiten Fenster an dem einen oder anderen Schweinestall. Noch zehn Jahre danach lag eine vier Meter große kaputte Big-Ben-Uhr mit abgebrochenem Stundenzeiger in einer Kurve vor der Kreisstadt Inosemzewo. Sie galt den Einheimischen als eine der größten Sehenswürdigkeiten in der Gegend. Obwohl alle Bewohner so taten, als hätten sie keine Ahnung, woher das Ding stammte, wurde die Riesenuhr im Volksmund ironisch als »Denkmal der verlorenen Zeit« bezeichnet.
    Wir waren damals noch zu jung, um das falsche Paris persönlich zu erleben, dafür konnten wir uns nun von dem wahren Paris ein Bild machen. Nichts einfacher als das - schon seit Wochen lagen unsere Busreisekarten auf dem Kühlschrank in der Küche, wir mussten nur noch die Koffer packen.Tschüss, Marzahn, wir ziehen auf den Montmartre! Unsere Nachbarn im Ausländerheim wussten von unserem Vorhaben und fingen an, Andrej und mich zu hänseln. »Na,wann geht's los?«, fragten sie uns jedes Mal, wenn wir uns im Treppenhaus begegneten.
    »Haltet die Klappe!«, antworteten wir. Dann bekamen wir jedoch unerwartet Besuch. Korchagin und Mascha, zwei Freunde von uns aus Moskau, riefen eines Abends gegen acht bei uns an. Allerdings nicht von Moskau aus, sondern aus Berlin, aus einer Telefonzelle am Kaiserdamm. Sie hätten Hunger und würden sich in Berlin überhaupt nicht auskennen, erzählten sie uns am Telefon. Wir wären nun ihre einzige Hoffnung. Ich kannte die beiden schon lange, in Moskau hatten wir zusammen im Theater der sowjetischen Armee gearbeitet: Korchagin war ein angehender Regisseur, seine Freundin Mascha eine begabte Schauspielerin. Zusammen hatten wir seinerzeit mindestens eine Zisterne Portwein im Theater der sowjetischen Armee geleert. Solche Verbindungen muss man

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