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Die Reise nach Trulala

Titel: Die Reise nach Trulala Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaminer Wladimir
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Rückseite stand: »Die sowjetische Regierung dankt für Ihre Mühe«. Nach seiner Rehabilitierung blieb Onkel Boris in Kasachstan. Er bekam von seinem Kautschukbetrieb eine Wohnung in Kandagach und arbeitete dort noch zwanzig Jahre lang als Ingenieur. Seine Frau, Tante Lisa, starb in den Siebzigern, er ging in Rente und kam dann zu uns nach Moskau zu Besuch. Eines Abends erzählte er mir von seiner Reise nach Paris. Damals lebte seine Frau auch noch. Er arbeitete in seinem Betrieb und durfte, obwohl rehabilitiert, nach zwölf Jahren Arbeitslager von einer solchen Reise eigentlich nicht einmal träumen. Doch Anfang der Siebziger wurde sie plötzlich Realität. Damals wusste jedes Kind, dass unser sozialistisches Vaterland bei allen Völkern der Welt beliebt war und nur die imperialistischen Regierungen gegen uns waren. Sie verbreiteten Lügen über unseren Alltag hinter dem Eisernen Vorhang und versuchten, uns als Kriegsanstifter hinzustellen. Wir waren aber für den Frieden und die Völkerverständigung. Außerdem war unsere Regierung sehr großzügig im Umgang mit ihren Bürgern, mit einem imperialistischen Regime war das nicht zu vergleichen. So zeichnete sie jedes Jahr hundert der besten Proletarier aus - Arbeiter, Bauern, Offiziere, Bergarbeiter oder kinderreiche Mütter: Sie alle bekamen eine fast kostenlose Reise nach Paris geschenkt, manchmal auch eine Reise nach London. Natürlich unter der Voraussetzung, dass alle Kandidaten Mitglieder der Partei waren.
    Der Auserwählte musste einige routinemäßige Gesundheitskontrollen über sich ergehen lassen und sic h von den Sicherheitsorganen instruieren lassen, wie man sich im Ausland zu benehmen hatte. Er musste unterschreiben, dass er alles, was er in Paris oder in London sah, für sich behalten würde. Danach konnte der Kandidat zweihundert Rubel in ausländische Währung umtauschen und war bereit zum Abflug. Die Sache hatte nur einen Haken. Die Regierung konnte natürlich unmöglich ihre Leute wirklich nach Frankreich oder, noch schlimmer, nach England schicken. Die sowjetischen Arbeiter könnten dort unvorbereitet allen Verlockungen der kapitalistischen Welt erliegen. Außerdem warteten die feindlichen Imperialisten nur darauf, dass sowjetische Bürger sich im Ausland sehen ließen, und hatten verschiedene Fallen und Provokationen für sie vorbereitet, um anschließend noch mehr Lügen über unser Land verbreiten zu können. Dazu kam, dass solche Reisen eine enorme finanzielle Belastung für die Staatskasse darstellten.
    Deswegen entschied sich die Regierung für eine sowohl preiswertere als auch weniger aufregende Lösung: Sie ließ in der südrussischen Steppe, in der Nähe von Stawropol, ein eigenes Ausland aufbauen, mit einer richtigen Stadt und vielen Bewohnern. Sie diente im Sommer zunächst als Paris, später, im Herbst, wenn es zu regnen anfing und Wolken aufzogen, ließ sich die Stadt schnell zu London umbauen. Das Objekt hatte den höchsten Geheimstatus, nur Mitarbeiter der Staatssicherheit lebten und arbeiteten dort mit ihren Familien. Sie waren den Anforderungen entsprechend ausgebildet und durften im Sommer untereinander nur Französisch und im Herbst nur Englisch sprechen.
    Die Saison begann im Juni. Die Touristen wurden vom Flughafen Orly bzw. Heathrow mit Bussen abgeholt und in Hotels gefahren. In kleinen Gruppen, begleitet von zwei Reiseführern, bummelten sie am nächsten Tag durch die sauber gefegten Straßen des Auslands, kauften schöne Pullover und unbekannte Käsesorten, staunten über ausländische Autos, die ab und zu die Straße entlangfuhren, lachten über den Eiffelturm oder Big Ben, die gegen die sowjetische Monumentalkunst nichts taugten. Aber im Großen und Ganzen fanden alle das Ausland eigentlich ganz nett. Zwar nichts Besonderes, aber enttäuscht waren sie auch nicht. Das Essen im Hotel schmeckte hervorragend ausländisch, die einheimischen Franzosen oder Engländer, die meistens arbeitslos waren, saßen die ganze Zeit in ihren Cafes und tranken Wodka mit Bier, aber natürlich nicht in solchen Unmengen wie bei uns, sondern aus ganz kleinen Gläsern. Sie begrüßten die sowjetischen Touristen sehr herzlich, und fast jeder dieser Arbeitslosen verstand sogar ein paar russische Sätze. Nach drei, vier Tagen flogen die Russen zu ihren Familien zurück.
    Mein Onkel durfte eigentlich wegen seiner Vergangenheit noch nicht einmal dieses Paris zu sehen bekommen, doch damals gab es noch keine Computer, und auch der schärfste

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