Die Reise nach Uruk
wieder sichtbar. Nicht mehr nur sein Arm, sein ganzer Oberkörper hing unnatürlich geknickt über eine der Stuhllehnen. Als hätte eine Axt sein Rückgrat in Höhe des Steißes einfach gekappt. Mund und Augen standen weit offen.
»Ihr ... habt ihn ... umgebracht?« Hysterisch, mit kippender Stimme schleuderte Manuel dem Albino entgegen, woran es keinen Zweifel gab.
»Seine Zeit war abgelaufen.« Die Rechtfertigung - so es eine war -kam in fast sachlichem Ton aus dem beunruhigend sinnlichen und femininen Mund des Mörders.
Erst in diesem Augenblick begriff Manuel die Gefahr, in der er selbst schwebte. Sofort wollte er zur Tür rennen, aber der Fremde schnitt ihm mühelos den Weg ab.
»Du mußt nicht sterben«, sagte er, »wenn du vernünftig bist.«
Vernünftig . Was bedeutete das in diesem Fall?
»Wir beide können ebenso ins Geschäft miteinander kommen, wie dein Vater mit uns einig wurde.«
Manuels Kehle war pulvertrocken. »Uns?«
Der Albino überging die Frage. »Du wirst reich und mächtig sein wie dein Vater. Du mußt nur klug sein. Und alle wirklich wichtigen Entscheidungen uns überlassen.«
»Wer bist du?«
»Deine gute Fee, dein Wünscheerfüller.«
Manuel hatte ein Gefühl, als würde sein Verstand in einen Strudel gezogen. »Bist du ...?«
Das Lachen des Mörders enthob ihn weiterer Spekulation. »Wir werden unsere Hände alle Zeit schützend über dich legen.«
»Man bekommt nichts ... umsonst.«
Der fahle Fremde schüttelte den Kopf. »Nein, das bekommt man nicht.«
»Was wird aus der Hexe?«
»Nichts. Noch nicht.«
»Nichts? Soll sie etwa - entkommen?«
»Du und ich«, bestätigte der Albino fast schulmeisterlich, »werden dafür sorgen, daß es ihr gelingt.«
Fassungslos starrte Manuel sein Gegenüber an, aber er war nicht fähig, aufzubegehren. Die Angst hockte immer noch wie eine kleine häßliche Kröte in seinem Herzen.
»Wie soll es jetzt weitergehen?« fragte er. »Mein Herr Vater ... Mutter . Es wird einen Riesenaufruhr geben. Die Leute .«
»Ich kümmere mich darum«, versprach der Fremde. Er wandte sich zum Gehen, hielt aber noch einmal inne, als wäre ihm etwas eingefallen.
»Ach ja, bevor ich es vergesse: Willst du ebenso alt werden wie dein Vater?«
Manuel schauderte.
Grinsend fügte der Albino hinzu: »Nur etwas langsamer, versteht sich .«
*
»Wer bist du? Warte, bleib stehen! Bist du eine - Geisterfrau ...?«
Im Gesicht des zahnlosen Alten, der unvermittelt aus einer Seitengasse gehumpelt gekommen war, spiegelte sich nicht nur Entsetzen, sondern auch das gespenstische Licht, das Elisabeth wie ein entarteter Heiligenschein umfloß.
Sie versetzte dem nächtlichen Spaziergänger, der trotz seiner Angst nach ihr zu greifen versuchte, einen wuchtigen Stoß, so daß er rücklings auf das harte Straßenpflaster schlug. Sofort verstummte sein Gebrabbel. Vielleicht hatte er sich den Schädel gebrochen.
Elisabeth hatte nicht vor, nachzusehen. Sie hastete weiter, so schnell sie konnte. Ihr Denken schien in tausend Teilchen zersprengt zu sein, als wäre es ein aufgeschreckter Vogelschwarm, der nur langsam wieder zusammenfand.
Es war geschehen. Wieder geschehen. Sie stahl wieder die Jahre anderer, benutzte ihr Talent als Waffe und hatte auch jeden Skrupel abgelegt, zu töten!
Wie seinerzeit in Prag, seinerzeit in Amsterdam und an vielen anderen Orten, ehe sie vom Urbösen gezwungen worden war, ihm die Flucht zu ermöglichen - von 1635 bis 1665. Dreißig Jahre hatte der Satan dank des Fluchs, der in Elisabeth rumorte, übersprungen. Und erst nach einem Jahr neuerlich unheilvollem Wirken war er 1666 in London von den Illuminaten aufgespürt und endgültig besiegt worden 3 - wenngleich für Salvat an der »Endgültigkeit« große Zweifel zu bestehen schienen .
Der Tod von Tobias hatte noch mehr Porzellan in ihr zerschlagen als zunächst angenommen. Sie steckte in einer totalen Sinnkrise.
Er würde mich nicht mehr wiedererkennen, dachte Elisabeth. Und so auch nicht mehr wollen.
Falsch! rief sie sich im nächsten Atemzug zur Räson. Er hat mich auch damals gewollt, obwohl ich dem Ewigen Feind geholfen habe. Obwohl ich ihn und Lilena daran hinderte, dem einäugigen Zyklopen schon im Frankenland den Todesstoß zu versetzen!
Tobias . Wie sehr sie ihn wirklich vermißte und noch gebraucht hätte, wurde ihr erst während ihrer Flucht durch die finstere Nacht klar.
Und am Ende fand sie sich nicht etwa bei der Herberge wieder, in der sie noch ihr ganzes Hab und Gut
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