Die Reise nach Uruk
aufbewahrte, das sie mit auf Reisen genommen hatte, sondern unten an den Dockanlagen vor der dunkel aufragenden Silhouette der AMETHYST.
Obwohl sie rasch Zuflucht hinter ein paar aufgetürmten Kisten suchte, fragte sie sich: Was soll ich hier? Hier werden sie zuerst nach mir suchen ...
Nur mühsam gewann sie ihre Fassung zurück.
Von Bord der Handelskogge drangen heisere Stimmen in ihr Versteck. Noch wußten die Seeleute nicht, was sich im Haus des Kaufmanns Pescara abgespielt hatte. Aber das war nur eine Frage der Zeit. Spätestens im Morgengrauen würde sich die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreiten und Aufgeregtheit um sich greifen. Elisabeth bezweifelte, daß die AMETHYST dann noch wie geplant ablegen würde. Alles würde ins Stocken geraten, sobald die Jagd nach der Mörderin eröffnet wurde.
In einem Anflug von Kapitulation stellte sie sich vor, daß sie ihren Häschern nicht länger zu entfliehen versuchte, sondern sich ihnen einfach stellte.
Was hatte das Leben - oder wie sollte sie dieses Dasein nennen? -denn noch für einen Sinn? Sie hatte nicht einmal die Garantie, daß sich, sollte sie Uruk je erreichen, ihr Vorhaben überhaupt in die Tat umsetzen ließ. Die Verhältnisse nahe der Reste der uralten Stadt waren ganz andere als in der Zukunft. Hier und jetzt hatte noch niemand den von Unmengen Sand begrabenen Zugang zum Zeitkorridor freigelegt. Hier und jetzt war auch das steinerne Tor, das die Vorkammer des Tunnels verschloß, noch ungeöffnet!
In den Stunden, die Elisabeth fast apathisch hinter gelöschter Fracht zubrachte, verlor sich dieser Fatalismus jedoch ebenso wieder wie das Leuchten ihrer Haut. Ihr Körper schien die gestohlene Zeit »abgearbeitet« zu haben. Wie und was er daraus machte, wußte Elisabeth bis heute nicht.
Kurz vor Anbruch des neuen Tages verließ sie ihr Versteck und suchte ein anderes auf. Sie stieg die Kaimauer hinab und ließ sich ins ruhige Wasser gleiten. Dann schwamm sie zur nahen AMETHYST und kletterte am Ankertau unbemerkt an Bord.
Zwischen Säcken mit Gewürzen wartete sie auf das Aufgehen der Sonne. Und darauf, daß die Jagd auf sie beginnen würde .
Auf letzteres wartete sie vergeblich.
Gegen Mittag des neuen Tages lichtete die AMETHYST den Anker, ohne daß jemand die Laderäume durchkämmt hatte. Auch das Verhalten der Besatzung, die Elisabeth belauschte, gab keinerlei Hinweis darauf, daß Francesco Pescaras Schicksal inzwischen bekannt geworden war.
Gegen Nachmittag verleitete unbändiger Durst Elisabeth bereits zur ersten Unvorsichtigkeit. Auf der Suche nach etwas Trinkbarem lief sie ausgerechnet dem Kapitän in die Arme, dessen Reaktion bei ihrem Anblick aber völlig anders ausfiel als befürchtet.
»Allmächtiger!« rief er. »Wir haben überall nach Euch geforscht! Wir gaben Euch schon vermißt und glaubten, Euch sei etwas zugestoßen. Daß Ihr Euch hier an Bord verlaufen haben könntet, kam uns nicht in den Sinn. - Ihr seid doch Elisabeth Stifter, deren Gepäck uns auf Kaufmann Pescaras Weisung am frühen Morgen aus der Herberge geschickt wurde ...?«
*
Gegenwart
Ibrahim Attar war weder Soldat noch Archäologe, und dennoch lebte er seit vielen Monaten in Verhältnissen, als wäre er beides. Eine Zeitlang hatte es ihm nichts ausgemacht, fern der Hauptstadt nach Dingen zu forschen, mit denen er sich ohnehin hingebungsvoll beschäftigte, seit er im Alter von vierzehn Jahren seine Großmutter nicht nur sterben, sondern auch deren Seele zum Himmel hatte fahren sehen. Ihre Seele, ja! Schon damals und erst recht mit seinem heutigen Wissensstand hatte Attar keine Zweifel gehabt, daß es sich bei der halbtransparenten, wie Rauch oder Nebel aus dem Leichnam emporsteigenden Substanz um das Urmenschliche schlechthin gehandelt hatte, um das, was zeitlebens in ihr gereift war und nun, nach ihrem Tod, wieder aus ihr wich, um in das Große Ganze zurückzukehren, das in tausend Religionen tausend verschiedene Namen erhalten hatte! Erstaunt hatte ihn bei seiner ersten Konfrontation mit einem ektoplasmatischen Phänomen lediglich, daß er es als einziger hatte wahrnehmen können, obwohl das Bett der Sterbenden von einem halben Dutzend enger Verwandter umlagert gewesen war. Inzwischen wußte er, daß sich seine Sensibilität für derartige Vorgänge nicht nur auf eine einzige ihm nahestehende Person beschränkte. Er war imstande, den Austritt der Seele bei jedem Menschen zu erkennen.
So hatte es angefangen, sein Interesse für das, was weltweit in die Begriffe
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