Die Reise zum Ich
die etwas Fürsorgliches zugleich aber Besitzergreifendes hatte. Als sein Blick auf das Foto fiel, begann er mit seinem darauf abgebildeten Vater zu sprechen:
»Nein, nein . . . Du bist Du, und ich bin ich. . . Nein, nein,
nein! Ich lasse nicht zu, daß du mein Leben lebst, ich lasse
nicht zu, daß du auf mir lastest. Wir sind aus zwei völlig
verschiedenen Welten. Ich habe bisher dein Leben gelebt, ich
habe dich in mir getragen, ich habe getan, was du getan
hättest, aber so geht es nicht weiter.«
Dies setzte er mir noch deutlicher auseinander, als er entdeckte,
daß sogar in seiner letzten Liebesangelegenheit es sein Vater
gewesen war, der das Mädchen geliebt hatte, und nicht er.
Ähnliche Erinnerungen und Reaktionen wurden in ihm wachgerufen, als ich ihm weitere Fotos vorlegte. Bei jedem Bild fielen ihm seine damaligen Gefühle und Ideen wieder ein, und
es wurde ihm dabei bewußt, daß sein Fehlverhalten im Verrat
seiner selbst bestanden hatte. Jedesmal, wenn es ihm zu Bewußtsein kam, empfand er tiefes Mißbehagen, bis er die Situation noch einmal durchlebt hatte, und zwar so, wie sie abgelaufen wäre, wenn er seinem wahren Selbst gehorcht hätte. Mit den Gestalten seiner Vergangenheit sprach er aus einer neuen Haltung heraus, die er nunmehr als seine eigene, wahre begriff.
Bald war er in der Lage, wieder das Gefühl des Einsseins zu
genießen und sein eigenes »Ich« zu spüren.
»Ich allein erlebe diesen Moment, ich allein. Dieser Augenblick, er ist mein. Niemand hat das Recht, mein Leben zu leben, ich lasse mir kein Leben von draußen aufoktroyieren.« »Ich möchte mir diesen kostbaren Augenblick nicht entgehen lassen. Zu fühlen, daß ich mit anderen zusammen
in der Welt bin, ist wunderbar, — nicht die Leute, sondern
mich selbst.«
Auch in seine Pubertätszeit blickte er zurück; damals hatte er
masturbiert und an den damit verbundenen Schuldgefühlen
gelitten. Heute sah er es folgendermaßen:
»Es war nur wegen des Ich wichtig, ich begegnete meinem
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Ich dabei, ich fand meinen inneren Halt. Es war wahrhaftig
das Einzige, das ich getan habe, und noch dazu hinter meinem eigenen Rücken«.
Dieser Patient war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte mich
wegen seiner Hemmungen konsultiert, die er besonders gegen
über den Personen empfand, die er am meisten liebte, in erster
Linie seiner Mutter. Als ich ihm ein Foto seiner Mutter reichte,
wurde ihm klar, daß sie ihn stets durch ihr Leiden unter Druck
gesetzt hatte und es ihm nie gelungen war, seine wahren Wünsche und Ansichten durchzusetzen. In seiner Vorstellung durchlebte er unter sehr intensiven Empfindungen eine Auseinandersetzung mit ihr, die in der Sitzung damit endete, daß er wie wahnsinnig auf dem Fußboden mit einem Messer auf »sie«
einstach. Noch unter Droge schrieb er dazu:
»Ich erinnere mich, wie schwer es war, dich zu töten, Mutter.
Ich habe dem Leben in dir ein Ende gemacht, das ein Leben
für mich war. Danach erst war ich imstande dich zu lieben.
Ich schenkte dir dann meine Liebe, die nicht die Erwiderung
der deinen war; sie ging von mir aus, es war meine.«
An diesem Punkt angelangt, glaubte ich, wir hätten nun alles
aufgearbeitet; fünf Stunden lang hatten wir uns mit seinen
wichtigsten Problemen auseinandergesetzt: nun befand er sich
in einem Zustand des Gleichmuts und Friedens. Nichtsdestoweniger fuhr ich damit fort, ihm Fotos zu zeigen. In der Mehrzahl lösten sie Reflexionen, objektive Überlegungen und Bewertungen aus. Als ich ihm indes ein Foto von sich im Alter von ein bis zwei Jahren vorlegte, trat ihm ein Vorfall in Erinnerung,
der ihn mit Abscheu erfüllte. Er durchlebte noch einmal, wie
seine Mutter ihm Essen in den Mund zwang, und dann folgte
eine andere Erinnerung, ein Gefühl, als ob er auf ihre Brust
-bisse. »Selbst damals war ich mir bewußt«, kommentierte er
später, »daß es deswegen geschah, weil meine Mutter zu wenig
Milch hatte.«
Einige Minuten schwieg er, dann krümmte er sich allmählich
immer mehr zusammen und legte sich auf die Seite, so daß er
wie ein Fötus zusammengerollt dalag. Auch jetzt sagte er kein
Wort. Plötzlich zuckte er wie im Krampf zusammen, eine Reaktion, die er später einem »imaginären« Schlag zuschrieb.
Weitere drei oder vier Minuten verstrichen, dann bat er mich,
ihn einige Zeit allein zu lassen. Er fühle, daß er jetzt durch
etwas hindurch müsse, wobei kein anderer zugegen sein dürfe.
Fünf Minuten später rief er mich wieder.
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