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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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die etwas Fürsorgliches zugleich aber Besitzergreifendes hatte. Als sein Blick auf das Foto fiel, begann er mit seinem darauf abgebildeten Vater zu sprechen:
    »Nein, nein . . . Du bist Du, und ich bin ich. . . Nein, nein,
    nein! Ich lasse nicht zu, daß du mein Leben lebst, ich lasse
    nicht zu, daß du auf mir lastest. Wir sind aus zwei völlig
    verschiedenen Welten. Ich habe bisher dein Leben gelebt, ich
    habe dich in mir getragen, ich habe getan, was du getan
    hättest, aber so geht es nicht weiter.«
    Dies setzte er mir noch deutlicher auseinander, als er entdeckte,
    daß sogar in seiner letzten Liebesangelegenheit es sein Vater
    gewesen war, der das Mädchen geliebt hatte, und nicht er.
    Ähnliche Erinnerungen und Reaktionen wurden in ihm wachgerufen, als ich ihm weitere Fotos vorlegte. Bei jedem Bild fielen ihm seine damaligen Gefühle und Ideen wieder ein, und
    es wurde ihm dabei bewußt, daß sein Fehlverhalten im Verrat
    seiner selbst bestanden hatte. Jedesmal, wenn es ihm zu Bewußtsein kam, empfand er tiefes Mißbehagen, bis er die Situation noch einmal durchlebt hatte, und zwar so, wie sie abgelaufen wäre, wenn er seinem wahren Selbst gehorcht hätte. Mit den Gestalten seiner Vergangenheit sprach er aus einer neuen Haltung heraus, die er nunmehr als seine eigene, wahre begriff.
    Bald war er in der Lage, wieder das Gefühl des Einsseins zu
    genießen und sein eigenes »Ich« zu spüren.
    »Ich allein erlebe diesen Moment, ich allein. Dieser Augenblick, er ist mein. Niemand hat das Recht, mein Leben zu leben, ich lasse mir kein Leben von draußen aufoktroyieren.« »Ich möchte mir diesen kostbaren Augenblick nicht entgehen lassen. Zu fühlen, daß ich mit anderen zusammen
    in der Welt bin, ist wunderbar, — nicht die Leute, sondern
    mich selbst.«
    Auch in seine Pubertätszeit blickte er zurück; damals hatte er
    masturbiert und an den damit verbundenen Schuldgefühlen
    gelitten. Heute sah er es folgendermaßen:
    »Es war nur wegen des Ich wichtig, ich begegnete meinem
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    Ich dabei, ich fand meinen inneren Halt. Es war wahrhaftig
    das Einzige, das ich getan habe, und noch dazu hinter meinem eigenen Rücken«.
    Dieser Patient war fünfundzwanzig Jahre alt und hatte mich
    wegen seiner Hemmungen konsultiert, die er besonders gegen
    über den Personen empfand, die er am meisten liebte, in erster
    Linie seiner Mutter. Als ich ihm ein Foto seiner Mutter reichte,
    wurde ihm klar, daß sie ihn stets durch ihr Leiden unter Druck
    gesetzt hatte und es ihm nie gelungen war, seine wahren Wünsche und Ansichten durchzusetzen. In seiner Vorstellung durchlebte er unter sehr intensiven Empfindungen eine Auseinandersetzung mit ihr, die in der Sitzung damit endete, daß er wie wahnsinnig auf dem Fußboden mit einem Messer auf »sie«
    einstach. Noch unter Droge schrieb er dazu:
    »Ich erinnere mich, wie schwer es war, dich zu töten, Mutter.
    Ich habe dem Leben in dir ein Ende gemacht, das ein Leben
    für mich war. Danach erst war ich imstande dich zu lieben.
    Ich schenkte dir dann meine Liebe, die nicht die Erwiderung
    der deinen war; sie ging von mir aus, es war meine.«
    An diesem Punkt angelangt, glaubte ich, wir hätten nun alles
    aufgearbeitet; fünf Stunden lang hatten wir uns mit seinen
    wichtigsten Problemen auseinandergesetzt: nun befand er sich
    in einem Zustand des Gleichmuts und Friedens. Nichtsdestoweniger fuhr ich damit fort, ihm Fotos zu zeigen. In der Mehrzahl lösten sie Reflexionen, objektive Überlegungen und Bewertungen aus. Als ich ihm indes ein Foto von sich im Alter von ein bis zwei Jahren vorlegte, trat ihm ein Vorfall in Erinnerung,
    der ihn mit Abscheu erfüllte. Er durchlebte noch einmal, wie
    seine Mutter ihm Essen in den Mund zwang, und dann folgte
    eine andere Erinnerung, ein Gefühl, als ob er auf ihre Brust
    -bisse. »Selbst damals war ich mir bewußt«, kommentierte er
    später, »daß es deswegen geschah, weil meine Mutter zu wenig
    Milch hatte.«
    Einige Minuten schwieg er, dann krümmte er sich allmählich
    immer mehr zusammen und legte sich auf die Seite, so daß er
    wie ein Fötus zusammengerollt dalag. Auch jetzt sagte er kein
    Wort. Plötzlich zuckte er wie im Krampf zusammen, eine Reaktion, die er später einem »imaginären« Schlag zuschrieb.
    Weitere drei oder vier Minuten verstrichen, dann bat er mich,
    ihn einige Zeit allein zu lassen. Er fühle, daß er jetzt durch
    etwas hindurch müsse, wobei kein anderer zugegen sein dürfe.
    Fünf Minuten später rief er mich wieder.

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