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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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Dann versuchte er zu
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    erklären, was er soeben erlebt habe: Er sei bei dem Zeugungsakt zugegen gewesen, dem er selbst entsprossen sei. Sein Vater sei ziemlich robust vorgegangen und seine Mutter habe nichts
    als Angst empfunden.
    Diese Rückschau hat mich nachhaltig beeindruckt, ungeachtet
    seiner Interpretation. Denn der Patient, ein junger Mann,
    wußte nicht nur nichts über die Wirkung von MDA oder gar
    etwas von prä-natalen Erinnerungen, er hatte auch noch nie
    eine Psychoanalyse durchgemacht. Zudem kannte ich ihn als
    außergewöhnlich aufrichtigen, ehrlichen Menschen, der für das
    geradestand, was er sagte. Ich konnte mir kaum vorstellen, daß
    er hier lediglich eine Schau abzog. Ob es sich hier wirklich um
    Erinnerungen handelte und ob es ein von der Struktur des
    Nervensystems unabhängiges Ich gibt, das sich dessen zu entsinnen vermöchte, was er beschrieb, ist mir unbekannt, noch kenne ich jemanden, der es wüßte. Dennoch, die pränatale
    Erinnerung ist ein zwar seltenes, doch bekanntes, unter Hypnose oder bei der Analyse auftretendes Phänomen, und ohne Erwähnung solchen Erlebens bliebe der MDA-Bericht unvollständig.
    Doch war dies nicht das letzte Phänomen bei der Behandlung
    dieses Patienten gewesen. Bald nach dem Vorangegangenen
    stieß er einen plötzlichen Schrei aus und stürzte zu Boden; dann
    legte er seine Hände auf die Brust. Zu diesem Vorgang erklärte
    er später: »Es war eine Sterbeszene; diese dummen Leute
    haben mich getötet.« Nun aber wurde er zum ersten Mal unruhig und ängstlich und zeigte Anzeichen des Unbehagens. Er meinte, weiter könne er nicht gehen, zögerte aber. »Meiner
    Meinung nach hat dies mit mir nichts mehr zu tun. Dieses
    Wissen steht mir nicht zu. Ich kann die Bürde eines weiteren
    Lebens nicht auf mich nehmen.« Dennoch eröffneten sich immer neue Ausblicke: Er sprach fließend Deutsch, und mit einer Stimme, die ich an ihm nicht kannte. Er sah sich als Nazi, und
    am Eßtisch sitzend. »Hilde, bring mir die Suppe«, rief er.
    Gleich darauf begann er zu singen und vermeinte auf dem
    Lande über eine Wiese zu gehen.
    Waren dies alles Fantasien oder waren es leibhaftige Erinnerungen, Erinnerungen an eine frühere Existenz? Der Patient stammte von Deutschen ab, und seine Familie hatte bis zu
    seinem vierten Lebensjahr bei seinem deutschen Großvater
    gelebt. Der Nazi, mit dem er sich identifizierte - war das sein
    Großvater oder nur eine Transformierung des Großvaters im
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    Geist des Kindes? Diese Frage vermochte er nicht zu beantworten. Er merkte lediglich, daß ein schwerer Druck auf ihm lastete. Er hatte Angst und ihm war übel vor seiner eigenen Frage. »War ich das? Ich selbst? War das ich?« Er fühlte sich
    schuldbeladen, als sei jenes Leben tatsächlich sein eigenes gewesen. Schließlich beschloß er, diese Verantwortung nicht auf sich zu nehmen. So teilte er seinem Alter ego mit, »Nein, ich
    kann dich nicht tragen. Du bist zu schwer.« Dann blickte er auf
    das Heizgerät, das im Zimmer stand, und spürte noch einmal
    sein eigenes Selbst - nicht sein alltägliches, sondern sein jüngst
    erworbenes Gespür für sein »Ich«. »Zu wissen, daß ich höre,
    tätig bin, mich bewege, gibt mir eine unglaubliche Macht.«
    Dieser letzte Fall konnte erst geklärt werden, nachdem er zu
    Hause Fotografien seines Großvaters herausgesucht hatte. Als
    er sie betrachtete, empfand er den gleichen Widerwillen wie
    zuvor, als er darüber nachgedacht hatte, wer der Nazi gewesen
    sein mochte. Er fand, sein Großvater sei schmutzig und geil. Zu
    einem Foto von einem j ungen Mann mit einer Hakenkreuzarmbinde erklärte er: »Meine Züge verzerrten sich; ich sah mich selbst wie ich an dem Tag gewesen war, als ich ihr Gewalt
    antat.« Darauf fühlte er den Druck von sich weichen, er versuchte zu verstehen, was gewesen war. Hatte er jemandem Gewalt angetan? Er war absolut sicher, daß es nicht physisch
    geschehen sein konnte. Hatte er moralisch Gewalt geübt?
    Hatte er einen Menschen vernichtet? Erinnerungen begannen
    aus seinem tiefsten Inneren aufzusteigen: Wie er seine kleinen
    Brüder geängstigt hatte und ihre Furcht genoß, wie er das
    kleine Mädchen geküßt hatte . . . Diese und andere Erinnerungsfetzen, das war ihm jetzt klar, waren die Quelle seines Widerwillens und seines Schuldgefühls. Denn was er soeben
    .seinem Großvater gegenüber empfunden hatte, empfand er
    nun für sich selbst und erkannte, daß er seine eigenen Schuldgefühle auf seinen Großvater

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