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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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jemandem »Gewalt angetan« zu haben, und schließlich die speziellen Vorgänge, die er sich nicht eingestehen wollte, in denen aber die Ursache seines
    Abscheus zu suchen war. Welche der in den verschiedenen
    Sitzungen zutage getretenen »Erinnerungen« Tatsache waren
    oder wie weit sie symbolischen Ersatzcharakter hatten, vermag
    ich nicht zu entscheiden. Doch zeigt uns dieser letzte Fall einen
    Weg zu ihrer Betrachtung.
    Eines ist klar, nämlich, daß eine »falsche« Erinnerung, deren
    Fakten schlichtweg nicht stimmen, dennoch psychologische
    Wahrheit beinhalten kann. Infolgedessen wird ihre allmähliche
    Akzeptierung mit der schrittweisen Klärung gewissermaßen
    parallel verlaufen. Daher brachte in diesem Fall die »Realisierung«, die in dem Satz zum Ausdruck gelangte, »ich sah mich selbst, wie ich an dem Tag gewesen war, als ich ihr Gewalt
    antat«, dem Patienten sofort Erleichterung. Darüber hinaus
    kann die projizierte Erinnerung aufgrund ihres Symbolcharakters die Bedeutung einer Drogenerfahrung weit umfassender 82

    vermitteln, als eine noch so präzise faktische Erinnerung. Zugegeben, es gibt traumatische Erlebnisse (in unserem ersten Beispiel die Trennung von der Kinderfrau), doch meistens ist es nicht eine Einzelepisode, die den Verzicht auf das Selbst zur
    folge hat, vielmehr eine ganze Reihe von mikrotraumatischen
    Wechselwirkungen. Im imaginierten Zeitpunkt des imaginier-
    ten Gewaltakts schlägt sich vermutlich ein generelles, durch
    unzählige Anlässe bedingtes Schuldgefühl nieder, von denen
    der erinnerte nur einer von vielen ist. Und die Klärung des
    einen reicht aus, um das gesamte Problem zu klären.
    In meiner Überzeugung von der Macht der Symbole wurde ich
    eines Tages zu Beginn meiner praktischen Laufbahn erheblich
    bestärkt. Vergebens hatte ich mich bemüht, eine Frau unter
    Hypnose zu heilen, die an nahezu ununterbrochenem Erbrechen litt. Sie war im zweiten Monat schwanger und durch ihr Erbrechen dermaßen geschwächt, daß es sie das Leben kosten
    konnte. Eben erst verheiratet, hatte sie einen Monat zuvor
    ihren Mann verloren, und so konnte man ihren Zustand mit
    seinem Tod in Zusammenhang bringen, doch waren wir uns
    unserer Sache damals nicht sicher. Sie war leicht zu hypnotisieren, und weil es eilte, versuchte ich, das Symptom zu unterdrük-ken oder zu verlagern, doch die Tage verstrichen, und die
    Wirksamkeit meiner post-hypnotischen Aufträge ließ mehr
    und mehr nach. Ein Kollege schlug vor, es mit der Auslösung
    eines gesteuerten Trancezustands zu versuchen. Nach nunmehr
    zehn Jahren kann ich mich an Einzelheiten nicht mehr genau
    erinnern; eines aber habe ich präzise im Gedächtnis: den entscheidenden Augenblick, als die Frau ihrem Mann gegenüberstand und in seinem transparenten Leib seinen Magen sah.
    Mein Kollege hatte die Eingebung, sie anzuweisen, den Magen
    herauszunehmen und ihn aufzuessen. Sie gehorchte, und als sie
    aus der Trance erwachte, war ihre Übelkeit fort. Diese nur in
    der Vorstellung vollführte Handlung, deren »Bedeutung« weder sie noch wir rational erfassen konnten, hatte sie von ihrem Leiden befreit, das so tief verwurzelt war, daß es selbst der
    Hypnose widerstanden hatte und uns um ihr Leben bangen
    ließ.
    Ebenso glaube ich an den therapeutischen Wert einer Konfrontierung mit Erinnerungen an Vorgänge, die sich nie in der äußeren
    Wirklichkeit
    abspielten,
    sondern
    Verkörperungen
    psychologischer Realitäten sind, zu denen man, zumindest
    83

    heute noch und in dieser Form keinen Kontakt herzustellen
    versteht. Doch ist dies nicht der letzte Schritt. Nachdem unser
    Patient die Idee der Gewaltanwendung gegen eine Person akzeptiert hatte, war er bereit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen.
    Das Schwerste hatte er überstanden und sich der schlimmsten
    Anklagen für schuldig befunden. Nun gab er seine Abwehrhaltung auf und öffnete sich der Realität.
    Was er sah, mag uns weit unschuldiger erscheinen als die von
    ihm imaginierte Vergewaltigung, doch dürfen wir nicht vergessen, daß diesmal mit Sicherheit er der Urheber der erinnerten Handlungen war und die vergleichsweise Geringfügigkeit seiner Vergehen durch die Realitätsqualität und Echtheit seiner Erinnerungen und das Ausmaß seiner inneren Beteiligung und
    Verantwortung mehr als wettgemacht wird. Wie die Symbole,
    können auch projizierte Erinnerungen bestimmte Zusammenhänge sowohl aufdecken als auch ihrer Erkenntnis hindernd im Wege stehen. Beide enthüllen und verdecken zugleich.

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