Die Reise zum Ich
jemandem »Gewalt angetan« zu haben, und schließlich die speziellen Vorgänge, die er sich nicht eingestehen wollte, in denen aber die Ursache seines
Abscheus zu suchen war. Welche der in den verschiedenen
Sitzungen zutage getretenen »Erinnerungen« Tatsache waren
oder wie weit sie symbolischen Ersatzcharakter hatten, vermag
ich nicht zu entscheiden. Doch zeigt uns dieser letzte Fall einen
Weg zu ihrer Betrachtung.
Eines ist klar, nämlich, daß eine »falsche« Erinnerung, deren
Fakten schlichtweg nicht stimmen, dennoch psychologische
Wahrheit beinhalten kann. Infolgedessen wird ihre allmähliche
Akzeptierung mit der schrittweisen Klärung gewissermaßen
parallel verlaufen. Daher brachte in diesem Fall die »Realisierung«, die in dem Satz zum Ausdruck gelangte, »ich sah mich selbst, wie ich an dem Tag gewesen war, als ich ihr Gewalt
antat«, dem Patienten sofort Erleichterung. Darüber hinaus
kann die projizierte Erinnerung aufgrund ihres Symbolcharakters die Bedeutung einer Drogenerfahrung weit umfassender 82
vermitteln, als eine noch so präzise faktische Erinnerung. Zugegeben, es gibt traumatische Erlebnisse (in unserem ersten Beispiel die Trennung von der Kinderfrau), doch meistens ist es nicht eine Einzelepisode, die den Verzicht auf das Selbst zur
folge hat, vielmehr eine ganze Reihe von mikrotraumatischen
Wechselwirkungen. Im imaginierten Zeitpunkt des imaginier-
ten Gewaltakts schlägt sich vermutlich ein generelles, durch
unzählige Anlässe bedingtes Schuldgefühl nieder, von denen
der erinnerte nur einer von vielen ist. Und die Klärung des
einen reicht aus, um das gesamte Problem zu klären.
In meiner Überzeugung von der Macht der Symbole wurde ich
eines Tages zu Beginn meiner praktischen Laufbahn erheblich
bestärkt. Vergebens hatte ich mich bemüht, eine Frau unter
Hypnose zu heilen, die an nahezu ununterbrochenem Erbrechen litt. Sie war im zweiten Monat schwanger und durch ihr Erbrechen dermaßen geschwächt, daß es sie das Leben kosten
konnte. Eben erst verheiratet, hatte sie einen Monat zuvor
ihren Mann verloren, und so konnte man ihren Zustand mit
seinem Tod in Zusammenhang bringen, doch waren wir uns
unserer Sache damals nicht sicher. Sie war leicht zu hypnotisieren, und weil es eilte, versuchte ich, das Symptom zu unterdrük-ken oder zu verlagern, doch die Tage verstrichen, und die
Wirksamkeit meiner post-hypnotischen Aufträge ließ mehr
und mehr nach. Ein Kollege schlug vor, es mit der Auslösung
eines gesteuerten Trancezustands zu versuchen. Nach nunmehr
zehn Jahren kann ich mich an Einzelheiten nicht mehr genau
erinnern; eines aber habe ich präzise im Gedächtnis: den entscheidenden Augenblick, als die Frau ihrem Mann gegenüberstand und in seinem transparenten Leib seinen Magen sah.
Mein Kollege hatte die Eingebung, sie anzuweisen, den Magen
herauszunehmen und ihn aufzuessen. Sie gehorchte, und als sie
aus der Trance erwachte, war ihre Übelkeit fort. Diese nur in
der Vorstellung vollführte Handlung, deren »Bedeutung« weder sie noch wir rational erfassen konnten, hatte sie von ihrem Leiden befreit, das so tief verwurzelt war, daß es selbst der
Hypnose widerstanden hatte und uns um ihr Leben bangen
ließ.
Ebenso glaube ich an den therapeutischen Wert einer Konfrontierung mit Erinnerungen an Vorgänge, die sich nie in der äußeren
Wirklichkeit
abspielten,
sondern
Verkörperungen
psychologischer Realitäten sind, zu denen man, zumindest
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heute noch und in dieser Form keinen Kontakt herzustellen
versteht. Doch ist dies nicht der letzte Schritt. Nachdem unser
Patient die Idee der Gewaltanwendung gegen eine Person akzeptiert hatte, war er bereit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen.
Das Schwerste hatte er überstanden und sich der schlimmsten
Anklagen für schuldig befunden. Nun gab er seine Abwehrhaltung auf und öffnete sich der Realität.
Was er sah, mag uns weit unschuldiger erscheinen als die von
ihm imaginierte Vergewaltigung, doch dürfen wir nicht vergessen, daß diesmal mit Sicherheit er der Urheber der erinnerten Handlungen war und die vergleichsweise Geringfügigkeit seiner Vergehen durch die Realitätsqualität und Echtheit seiner Erinnerungen und das Ausmaß seiner inneren Beteiligung und
Verantwortung mehr als wettgemacht wird. Wie die Symbole,
können auch projizierte Erinnerungen bestimmte Zusammenhänge sowohl aufdecken als auch ihrer Erkenntnis hindernd im Wege stehen. Beide enthüllen und verdecken zugleich.
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