Die Reise zum Ich
anderen Gruppenmitgliedern gegenüber ein intensives Schutz- und Zärtlichkeitsbedürfnis empfand, aber nicht imstande war, dieses Verlangen zu äußern.
Vergleicht man die erste MDA-Behandlung mit der zweiten,
zeigt sich, daß der Patient sich bei der zweiten besser erinnern
und mehr empfinden konnte (Einsamkeit, Frustration und Verlangen), doch lediglich auf Kosten seines Erinnerungsvermögens. Trotz letzteren Umstands meinte ich aufgrund seiner vertieften Erfahrung eine Lockerung der Abwehrhaltung feststellen zu können und ferner, daß diese Sitzung eine Brücke bilden wird zur folgenden, in der seine Erinnerungen und Gefühle endlich seinem Bewußtsein integriert werden konnten.
Schon zwei Tage nach der Gruppensitzung wurde diese Vermutung durch die Reaktionen des Patienten auf den HPT erhärtet.
Wiederum war die Veränderung auffallend. Nicht nur schämte
er sich seiner Schwäche, es tauchte ein neues Thema auf: Der
71
Gesichtsausdruck einiger der fotografierten Personen erschien
ihm nunmehr kritisch, höhnisch und distanziert; zumindest bei
einem der Fotos sah er darin eine Ähnlichkeit mit seinem
Vater.
Die nächste Gruppensitzung fand einen Monat nach der zweiten statt und begann erhitzt und mit viel Schreien. Er schien mir das Gleiche noch einmal zu durchleben, doch war es eine andere Situation, die diese Gefühle in ihm wachrief. Diese begann sich nach und nach zu enthüllen, während er seiner Wut freien
Lauf ließ: »Dein Sohn ist ein Dieb. Dein Sohn ist ein Dieb. Dein
Sohn ist ein Dieb«, schrie er - und darauf folgten Zorn, Abwehr
und Haß: »Nein! Nein! Es gehört mir, ich habe es auf dem
Fußboden gefunden! Es ist meins, meins, meins! Ich habe es
nicht gestohlen! Ich habe überhaupt nichts gestohlen! Ich habe
es gefunden. Verbrecher! Verbrecher!«
Nach dreieinhalb Stunden begann ihm das Vergangene ins
Bewußtsein zu treten: Während des ersten oder zweiten Schuljahrs fand er einmal einen kleinen Edelstein (vermutlich einen Brillanten), den er behielt, ohne etwas von seinem Wert zu
ahnen. Man beschuldigte ihn des Diebstahls, und in seiner
Angst verschluckte er den Stein. Deutlich entsann er sich, wie
man ihm mit Gewalt ein Brechmittel einflößte, weil man den
Stein wiederhaben wollte. Jetzt in der Sitzung litt er unter der
Vorstellung, er habe immer noch etwas im Magen. Undeutlich
konnte er zwei Päckchen fühlen, ein kleineres hinter dem
Brustbein, ein größeres etwas darunter. Er öffnete das kleinere
und fand den Brillanten darin. »Das andere, das ich kaum
erkennen konnte und vergessen habe, blieb ungeöffnet«, stellte
er später fest und fügte hinzu: »Nachdem ich das alles entdeckt
habe, fühle ich mich von etwas sehr Großem und Schwerem
befreit, als ob ich zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder
aufatmen könnte. Doch dieses Bedürfnis, tief Atem zu holen,
bezog sich auf etwas, das mir unfaßlich blieb.« Während des
übrigen Tages trat er mit den anderen in Interaktion anstatt sich
wie beim vergangenen Mal in sich zurückzuziehen. Nachdem
die Drogenwirkung verflogen war, verabschiedete er sich von
den anderen Gruppenmitgliedern und brach dabei fast in Tränen aus. Vor allem mir gegenüber war er so gerührt, daß er mich wie ein Sohn auf die Wange küßte. Dies stand in dramatischem
Gegensatz zu der Empfindungslosigkeit, derentwegen er sich
einst in Behandlung begeben hatte.
Wieder einen Tag später überwältigte ihn das Gefühl, daß er in
72
Wirklichkeit weder Vater noch Mutter gehabt habe, und dies
wiederum machte ihn glauben, er habe sie umgebracht. Gleichzeitig hatte er das Gefühl, als seien nun alle Stücke eines riesigen Puzzles an ihrem richtigen Platz: Träume, Ängste und Lebenssituationen. Nach einer weiteren Woche indes hatte es
den Anschein, als sei ein Vorhang vor seinem inneren Blick
niedergegangen. Seine Gefühle wurden matter, die im Verlauf
der Sitzung ins Gedächtnis gerufenen Erlebnisse erschienen
ihm weniger und weniger real.
Ich schlug dem Patienten, aus den gleichen Gründen wie zuvor,
ein weiteres Gespräch vor, das insofern besondere Bedeutung
erhielt, als dem Patienten davon am wenigsten in Erinnerung
blieb und das dennoch das wirksamste war. Während der ersten
Stunden hielt der Patient sich für eine Frau und genoß diese
Rolle; langsam wurde ihm klar, daß er sich schon in früher
Jugend mit einer Frau identifiziert hatte, weil er glaubte, seinen
Vater auf diese Weise für sich zu gewinnen. Eine
Weitere Kostenlose Bücher