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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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Parallele
    sehen. Weder seine Reizbarkeit noch seine sexuellen Zweifel
    sind ein Zeichen von Gesundheit und psychischer Ausgeglichenheit. Doch nun ist er imstande, dem allen ins Auge zu sehen, und dabei blickt er auch sich selbst viel tiefer ins Auge,
    tiefer, als wenn es sich um seine Kleidung handelte oder um die
    Beurteilung seiner Liebestechnik. Darauf verweist die nun einsetzende Entwicklung, denn selbst noch zu späterer Stunde des gleichen Tages fühlte er sich besser denn je, und in der Woche
    darauf traten nicht mehr Rückfälle ein, als er wieder aufzuholen
    vermochte, was ihn auf zuvor unbekannte Höhen des Wohlbefindens führte. In einem dieser Augenblicke brachte er folgendes zu Papier:
    »Ich habe eingesehen, daß nur sehr wenige Dinge etwas
    ausmachen. Es macht nichts, wenn der Wagen nicht funktioniert, wenn ein Mädchen uns nicht liebt, wenn sie einem nicht die besten Stellen an der Universität geben, wenn sie behaupten, ich sei ein Homo. Es macht nichts, daß ich weder 98

    Geld noch ein Königreich besitze, daß meine Eltern sterben
    werden, daß Tante Rosa verrückter ist denn je. Vielleicht
    kommt es nur auf eines an: tief einzuatmen und das Hier und
    Jetzt zu spüren, die Luft zu genießen und sich an jeder Fliege
    zu freuen. Es macht gar nichts, daß ich nicht nach England
    gehen,
    kein
    Schriftsteller
    oder
    kein
    Playboy
    werden
    kann.«
    Und vierzehn Tage nach der Sitzung:
    »Ein Lebwohl jenem Teufelskreis, jener ›ontologischen‹
    Langeweile an allem; Probleme und Psychotherapie, lebt
    wohl. Das Sargassomeer, die dunkle Nacht und der Sturm,
    sie sind überstanden. Das ist das Ende der Ängste, der Depressionen und der teelöffelweisen Scheiße. Die Sonne bricht durch, beleuchtet das Meer, die Welt und die
    Fliege.«
    Dem Leser wird aufgefallen sein, daß der Patient, wenn er sich
    um die Wiedergabe einer Erkenntnis bemüht, stets die Vergangenheitsform benutzt: »Ich habe eingesehen«, »ich spürte« und so fort. Die Tatsache, daß er seinen momentanen Zustand in
    der Vergangenheit sieht, sowie der Umstand, daß er in dem
    anschließenden
    detaillierten
    schriftlichen
    Bericht
    (der
    hier
    nicht angeführt wird) nichts davon erwähnt, läßt möglicherweise darauf schließen, daß die Erkenntnis sich ausschließlich in jenem Augenblick vollzog, wiewohl sie während der Gesamtdauer der vollen Drogenwirkung möglich gewesen wäre.
    Anders ausgedrückt: Im Zustand der Drogenwirkung ist die
    Erkenntnis latent gegeben, der Zustand selbst ist jedoch nicht
    durch den Erkenntnisstand bedingt.
    Der Rückführungsprozeß ist so zu verstehen, daß die erinnerte
    Erfahrung in deutliche Einstellungen zu bestimmten Fragen
    umgesetzt wird. Oder um es bildlicher darzustellen, die visionäre Erfahrung läßt sich mit einer Stelle auf einem Berggipfel vergleichen, von dem aus sich ein Überblick über das Panorama
    bietet; dennoch ist damit dem Betrachter lediglich die Möglichkeit dieser Aussicht gegeben, und der Prozeß des Schauens ist ein anderer als der des Erklimmens des Gipfels. Aus der speziellen, von einer bestimmten Stelle aus gesehenen Sicht ergibt sich implizite der Standpunkt, der nunmehr zum expliziten
    wird. Ähnlich entsprechen die aus dem jeweiligen Bewußtseinsstand gewonnenen Erkenntnisse der jeweiligen Ebene der Bewußtheit, für die sie selbst Ausdruck sind. Dennoch ist Erkenntnis und der seelisch-geistige Zustand, der sie ermöglicht, 99

    zweierlei; sie ist das Ergebnis eines kreativen Akts, bei dem das
    Bewußtsein ein bestimmtes Niveau erreicht und sich auf das
    richtet, was drunten vor ihm ausgebreitet liegt.
    Mit anderen Worten, jene »Mitte«, die sogar »das Leben in
    einem leeren Zimmer« lebenswert machen kann, muß auf die
    Peripherie des Alltagslebens ausgedehnt werden: Der »Himmel« des spirituellen Erlebens muß auf die »Erde« der jeweiligen Umstände einwirken, ehe es zur wahren Erkenntnis kommen kann. Und nur dann vermag das Leben schöpferisch gestaltet (d. h. zwischen Verhaltensmöglichkeiten gewählt) zu werden - je nach der in blitzartiger Erkenntnis gewonnenen
    Sicht.
    Daß diese Synthese nicht leicht zu erreichen ist, liegt daran, daß
    einer, der zum Schwindel neigt oder dazu, nur die Steine zu
    sehen, oder zu fallen, schwerlich den Gipfel erreichen wird.
    Oder, empirisch ausgedrückt, die momentanen Schwierigkeiten eines Menschen sind in das visionäre Erleben nur schwer einzubringen - in einem Augenblick, da es so überaus wünschenswert wäre. Oder ihre

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