Die Reise zum Ich
bedeuten und als hätte
alles einen Sinn; für alles gab es eine Erklärung, und niemand
hatte sie gegeben oder nach ihr gefragt - als sei ich lediglich
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ein Pünktchen, ein strahlender Tropfen in einem Raum voller Wonnen.«
Nach einer Weile rief er aus:
»Dies ist ja der Himmel, und ich hatte die Hölle erwartet!
Kann das wahr sein? Oder mache ich mir etwas vor? Schon
jetzt scheinen mir alle meine Probleme nur Täuschung zu
sein.«
Ich antwortete ihm, dies sei durchaus möglich, und wären seine
Probleme tatsächlich die Frucht seiner Einbildung, würde es
gut sein, sich dies eindringlich zu verdeutlichen, damit er sich
später dessen entsinne. Ich schlug ihm vor, seine gegenwärtige
Gemütsverfassung mit der gewohnten in Vergleich zu setzen
und zu versuchen, sich über den Unterschied klar zu werden.
Der Unterschied war ihm vollkommen klar. Denn die Droge
hatte den Kritikaster in ihm ausgeschaltet, den Teil seines Wesens, den wir in den vorangegangenen Gesprächen aufgedeckt hatten - jenen Tadler in ihm, der ihn nicht hinnahm, wie er
war.
Ich sagte ihm, er wisse nun, wie das Leben aussehe, wenn sein
»Richter« künstlich in Schlaf versetzt werde. Doch würde er
wieder erwachen - und dann sei es seine Sache, ob er es mit ihm
aufnehmen wolle oder nicht. Er stimmte zu und so ging ich dazu
über, ihn mit seinen Problemen zu konfrontieren und ihm Fotos
von seinen Angehörigen vorzulegen, um seinen Geist auf die
Sicht seines verdrängten, nicht-richtenden Selbst zu fixieren.
Dabei wurde er sich der Realität seiner selbstquälerischen Neigungen im täglichen Leben noch deutlicher bewußt. Wie er es nachher ausdrückte:
»Schon viel früher habe ich das bei der Selbstanalyse empfunden. Doch jetzt erkenne ich es deutlicher denn je, denn es handelt sich hier um eine Charaktereigenschaft mit allen ihren Attributen. Und sie hat sich auf mein Leben und auf meine Probleme - das erkenne ich jetzt - enorm ausgewirkt.«
In den Tagen danach trat tatsächlich eine Veränderung aufgrund dieser Einsicht ein; der Patient identifizierte sich nicht mehr restlos mit der Verurteilung seiner Selbst, vielmehr gewann er eine gewisse Distanz, als sei sein Leben (sein eigenes Urteil) nunmehr frei, - es gab keinen Ankläger und auch keinen Beklagten mehr.
Blicke ich in seine Notizen, aus denen zu zitieren er mir freundlicherweise erlaubte, stelle ich fest, daß bis zum Ende des vier-93
ten Tages nach Einnahme von MMDA eine nahezu reibungslose Überführung des erstmals mit Hilfe dieses chemischen Mittels erlebten und erreichten Gemütszustands ins alltägliche
Leben stattgefunden hatte. Am fünften Tag fühlte er sich ein
paar Stunden lang deprimiert, erholte sich jedoch, nachdem er
seine Tageseintragung gemacht hatte:
»Ich war in jener Mitte, der Mitte meines Selbst, und ich
erkannte, daß sie mir niemals verloren gehen werde. Ich
brauchte nur noch tief einzuatmen, lächelnd das Universum
zu schauen und an die Bücherregale zu denken, die ich an
jenem Tag inspiziert hatte.« Und er fährt fort: »Ich begriff,
daß schon ein paar Sekunden und ein leeres Zimmer ausreichen, um sich über ein ganzes Leben Rechenschaft zu geben.
Es macht nichts mehr aus, ob ich sterbe oder ob ich einen
Arm einbüße. Es ist nicht eine Frage materieller Quantitäten. In null Minuten wird das Leben über alle Maßen schön -
auf minimalem Raum und ohne einen Pfennig Geld, und
auch ohne Gesundheit und ohne sozialen Erfolg und all
diesen Schitt.«
Hier fügte er hinzu:
»Ich spüre es sogar heute noch. Zwar bin ich vom Mittelpunkt des Aleph schon etwas entfernt, dennoch ruhe ich weiterhin in jener Mitte, einer Mitte, die, wiewohl noch
chaotisch, doch überall ist.«
Meiner Meinung nach trifft diese Schilderung des Patienten ins
Schwarze. Er erkennt, daß er trotz seines »Zentriertseins« im
neu entdeckten Bereich der Selbstgenügsamkeit und Gelassenheit sich nichtsdestoweniger in einem gestörten Zustand befindet. Mit anderen Worten, er begeht nicht den Fehler (den manche Patienten und sogar Therapeuten bisweilen machen),
die transzendente Erfahrung mit dem Erlebnis seelischer Ausgeglichenheit und Gesundheit zu verwechseln. Er ist sich seiner negativen Emotionen bewußt, die er als Teil seiner Neurose
erkennt; auch reagiert er weiterhin in einer Weise, von der er
weiß, daß sie nicht gerade wünschenswert ist. Aber ebenso wie
der »Verlust eines Arms« ihm nichts ausmachen würde, quält
er sich auch wegen
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