Die Reise zum Ich
mehr schlimm.«
Denn die Einsicht, wie wir wohl wissen, ist nicht allein ein
Denkprozeß, sondern eine Facette des Wandels. Nur wenn
»nichts wichtig« ist, kann dieser Patient akzeptieren, ein »böser
Junge« zu sein, der er nie gewesen ist, und sich Gedanken zu
machen, die sich gegen seine Mutter richten, denn solche Gedanken sind von seiner Selbstbehauptung und Auflehnung nicht zu trennen.
Das Äquivalent der Einsichtsbereitschaft ist in seiner Öffnung
für Gefühle und Impulse zu sehen, die mit einem akzeptablen
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Selbstbild unvereinbar wären. Jetzt sind sie tragbar, weil es
noch etwas anderes gibt, auf das man sich stützen kann - jene
»Mitte«, die den Patienten ermutigt, das ihm eigentümliche
Verhalten zu bejahen. Wenn das Sterben nichts ausmacht,
warum soll dann seine Wut etwas Schlimmes sein oder sein
sonstiges Verhalten aufgrund seiner Konditionierung?
Die folgende Stelle läßt seine wachsende Spontaneität erkennen und bildet eine Parallele zu dem im vorigen Zitat beschriebenen Erkenntnisakt:
»Ich fühlte mich wieder einmal saumäßig, daß ich in diesem
Haus lebe, in dem man unmöglich leben kann, bei solcher
Hitze, mit dem alten Kurpfuscher und seinen Patienten, die
den ganzen Tag an der Tür schellen, und dieser Alten, die
immer nörgelt und nörgelt und nochmals nörgelt. Warum ich
nicht in meinen Wagen steige und diese Stühle hole, und
warum ich nicht diese andere Verrückte am Sonnabend aus
der Klinik hole, und was würde Onkel John sagen, wenn er
wüßte, daß ich nicht diesen und jenen Gang für sie tue? (Und
das Haus ist voller Ameisen, fliegende, Millionen von ihnen,
die mich am Schreiben hindern!) Aber ich habe es ihnen klargemacht: Scheißonkel John und die ganze Verwandtschaft, und was sie schon meinen! Ich brüllte sie an und schlug mit
der Faust auf den Tisch, einmal, zweimal, dreimal, viermal.
Und ich sagte ihr, sie solle nicht damit rechnen, daß ich ihr
weiter zuhöre, bloß deshalb, weil ich es seit achtundzwanzig
Jahren getan habe, und so weiter. Und sie verließ mit einer
Tasche das Haus. Ich dachte, sie wollte zu ihrer Schwester
übersiedeln, aber sie ist zurückgekommen; anscheinend ist
sie nur zur Wäscherei gegangen mit ein paar Kleidern. Und
ich fühlte mich saumäßig - schuldig, weil ich eine beschissene
Frau haßte, die mich immer und ewig getriezt hat und mich
immer weiter triezen will.
Doch genug damit. Sie werden lernen müssen, mich in diesen
letzten Tagen, die ich bei ihnen verbringe, nicht mehr zu
plagen.«
Die soeben geschilderte Episode kann als eine Entsprechung
der »Verschlimmerung« bezeichnet werden, die häufig im Lauf
der
tiefenpsychotherapeutischen
Behandlung
ohne
Drogen
auftritt. ln Wahrheit wurde im Prozeß lediglich die Feindseligkeit des Patienten offengelegt, und dies mag der unvermeidliche Preis dafür sein, daß er sie voll zu durchleben und zu begreifen vermochte, ehe er sie nun hinter sich lassen kann. Die
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heftige Ablehnung seiner Umgebung, die sich im Bericht des
Patienten widerspiegelt, mag uns als das genaue Gegenteil jener für die »MMDA-Gemütsverfassung« typischen bedingungslosen Akzeptierung der Realität erscheinen. Wie kann sich jemand über Ameisen aufregen, der zu der Einsicht gelangte, daß ihm nicht einmal der Tod etwas ausmache? Wie dem auch sei, der Patient akzeptiert seine Wut in weit größerem
Maße als vorher, anstatt sie zu verdrängen und in Form von
Symptomen anderswo auftauchen zu lassen. Diese Wut ist als
Abwehrmechanismus gegen andere Gefühle zu verstehen, die
sich bewußt zu machen er noch nicht imstande ist (seine Einsamkeit, das Gefühl des Ungeliebtseins, des Nichtgeachtetwer-dens zum Beispiel), die durch gewisse Umweltreize ausgelöst
werden. Daher können wir damit rechnen, daß diese Gefühle
bei einem weiteren Fortschreiten in der gleichen Richtung unter
die Lupe genommen werden und er dann nicht mehr so irritabel
auf Hitze, Ameisen, Patienten und Ansprüche seiner Mutter
reagieren wird. Den psychologischen Ablauf dürfen wir uns so
vorstellen, daß ein gewisses Maß an Gleichmut nach maximal
fünf Tagen noch weitergewirkt und dazu ausgereicht hatte, die
erste geistig-seelische Zwiebelschale zu durchdringen. Ist diese
Bewußtseinsveränderung von Dauer, wird die gleiche Kraft
fortan auf die nächste Schale einwirken.
In der Offenlegung seines Grolls und der Aufdeckung seiner
Furcht vor möglicher Homosexualität kann man eine
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