Die Reise zum Ich
sich selbst. Willst du Gott lieben, so mußt du
Ihn mehr und mehr lieben. Beginnst du in Demut als Lehrling, so wird dich die Macht der Liebe zum Meister dieser Kunst machen. Die am weitesten Vorangeschrittenen werden weiter voran drängen, weil sie sich niemals am Ziel glauben; denn die Nächstenliebe muß größer und größer
werden bis zu unserem letzten Atemzug!‹«2
Kompliziert wird das Bild, weil der Lernprozeß, falls er zu
höheren
(nicht-instrumentalen)
Verhaltens-
und
Funktionsweisen führt, durch ein Wiederaufleben gewohnter Reaktionsstrukturen, die mit den neuen unvereinbar sind, behindert werden kann. Mit anderen Worten, das Erinnern an den »heilen«
Zustand3 wird erst möglich, wenn keine bedingten Reflexe - die
das Individuum ja loswerden möchte - durch spezifische Reize
ausgelöst werden. Man lese zum Beispiel ein weiteres Zitat aus
den Notizen unseres Patienten:
»Seit der MMDA-Sitzung ist nun eine Woche vergangen,
und ich fühlte mich heute wieder so einsam, in meinem Bett,
in meinem dunklen heißen Zimmer, in diesem düsteren
Haus. Mir ist nach Flucht zumute, irgendwohin, ins Kino,
oder zu Albert, oder sonst jemanden, und ich weiß, mir wird
in jedem Fall elend zumute sein, denn ich kann nicht aus
meiner Haut, und ich werde mich ihnen gegenüber wie ein
Dummkopf benehmen, in mich hinein heulen wie ein kleiner
Junge, der sich seine Wunden leckt, der seine Eltern haßt und
träumt, er sei König.
2 aldous huxley, The Perennial Philosophy. New York und London, 1945, S.
89-90.
3 Wenn ich hier »heil« sage, gehe ich davon aus. daß dieser Zustand der natürliche
ist und sich nur deshalb spontan und ohne vorherigen Lernprozeß manifestiert,
weil es so etwas wie einen natürlichen Zustand gibt. Ein »Erlernen« wird lediglich
zum Zwecke der »Verwirklichung«, d. h. für das Umsetzen in die Praxis notwendig.
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All dies empfinde ich heute, nur eine Woche noch dem
Lichtblick einer möglichen Heilung. Und warum? Weil Ich
vergangene Nacht schlecht geschlafen habe (nach einem
Streit mit Alice), weil sich in meiner Seele wieder der Abfall
anhäuft, weil ich auf einen Telefonanruf von Anna warte.
(Verdammt, sie ist mir durch die Lappen gegangen). Nein, es
ist anders! Sie will mich scharf machen, indem sie nicht
anruft. Mein Selbstvertrauen ist wieder auf Null abgesunken,
und immer noch bin ich hundertprozentig von anderen abhängig.«
Die Tatsache, daß unser Patient vorübergehend wieder seiner
neurotischen Verfassung verfiel, weil das Mädchen ihn abwies,
beweist, daß er im vorübergehenden Gefühl seiner Unverletzlichkeit eine mögliche Ablehnung überhaupt nicht in Erwägung gezogen hatte. Erst als er sich von seinem Rückfall wieder
erholte, war er imstande zu sagen, was er ja auch tat, »es macht
nichts, wenn ein Mädchen uns nicht liebt.«
Ich glaube, daß in dieser Konfrontation mit der Erfahrung
(oder der Möglichkeit zur Erfahrung) schon das heilsame Moment liegt, desgleichen in der Einsicht, die der neuen Verfassung Dauer verleiht. Diese Konfrontation kann während der Sitzung unter MMDA stattfinden, wenn man den Patienten zur
Betrachtung der Konfliktsituationen seines Lebens hinführt,
oder erst später, wenn es nicht mehr zu vermeiden ist. ln diesem
Fall führte ich den Patienten erst zur Kontemplation seiner
Schwierigkeiten, als ich den Eindruck gewann, er sei nun so
weit, sie mit Gleichmut betrachten zu können. Doch hatte ich
nicht erkannt, wie sehr er sein Zurückscheuen vor bestimmten
Fragen verbarg. Dies war denn auch das erste, an was er nachher dachte (»es wollte nicht aus mir heraus«), und treffend beschreibt er später die Wirkung der Sitzung als »Antiseptikum, das die Infektion zwei bis drei Tage behob, so daß ich mich frei von jeder Neurose fühlte.«
Je mehr Fragen umgangen werden müssen, damit der Zustand
visionären Erlebens nicht abreißt, desto unbeständiger und
kurzlebiger wird sich diese Erfahrung im täglichen Leben auswirken. Wenn ich hier aus Berichten über visionäres Erleben zitiere, will ich damit zu verstehen geben, daß solcher Erfahrung ein Element der Selbsttäuschung innewohnen kann, ein Nicht-sehen-Wollen, was mit Erfahrung unvereinbar ist. Wie
weit kann das Gefühl, daß wir auch den Tod akzeptieren,
Gültigkeit haben, wenn wir nicht imstande sind, uns den Tod
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vorzustellen? Dennoch bin ich überzeugt davon, daß bei den
meisten
pharmakologisch
herbeigeführten
Erfahrungen
eine
ganze
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