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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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dieser Mängel nicht mehr. Statt dessen
    empfindet er den weniger zwingenden, doch vermutlich wirksameren Wunsch, »Ordnung« in sein Leben zu bringen, sein Leben neu »aufzubauen«, als »geliebte Pflicht« oder »heilige Last«.
    So
    groß der Unterschied zwischen einem Zustand geistiger
    Gelassenheit und einer gesunden psychologischen Funktion
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    auch sein mag, glaube ich doch, daß sich letztere bei Vorhandensein der ersteren allmählich von selbst ergibt, so daß hier von einer indirekten Folge visionären Erlebens gesprochen
    werden kann.
    Einer der Wege zur Herbeiführung eines weiteren Wandels
    besteht
    darin,
    diese
    Stimmung
    heiteren
    Gleichmuts,
    der
    schmerzfreien Gelassenheit als Möglichkeit zu vermehrter Einsicht zu nutzen, im gleichen Sinn wie die Anwendung eines Analgetikums die chirurgische Behandlung einer Wunde erleichtert. Zu solcher Einsicht kann es unmöglich kommen, solange der Patient sich noch restlos mit der Unversehrtheit seines idealisierten Selbstbildes identifiziert. Wenn aber unser Patient nun behauptet, selbst der Tod mache ihm nichts mehr
    aus, obwohl dies höchstwahrscheinlich übertrieben ist, spricht
    er unwissentlich eine metaphysische Wahrheit aus. Denn »in
    der Mitte« verliert der Tod des Selbstbildes jegliche Bedeutung.
    Auf welche Weise diese gleichmütige Haltung zu größerer Bewußtheit führen kann, läßt sich aus anderen Abschnitten seiner Aufzeichnungen ersehen, die drei Tage nach der Sitzung niedergeschrieben wurden:
    »Etwas wollte nicht aus mir heraus: Anale Masturbation: die
    große Schuld, der schwerste Verstoß, den der Große Puritaner nie verzeihen wird. Äußerste Degeneration, Auswurf der Menschheit. Ich mußte es mit N. besprechen, aber es wollte
    nicht heraus. . . das große Loch, der Arsch, das Zentrum
    meiner Hölle ... verbarg sich, hielt sich nicht für verzeihlich
    oder begreiflich, hielt sich für etwas, das nicht einmal ein
    Mensch wie Dr. N. ohne Abscheu zur Kenntnis nehmen
    konnte.
    Ich kann meinen Großinquisitor in meinen Arsch schieben,
    auf ihn pissen oder scheißen - doch wird alles damit schon
    viel zu wichtig, die Lösung ist, zu begreifen und zu fühlen,
    daß es gar nicht so wichtig ist, das heißt, sich überwinden läßt
    wie alle anderen Probleme. Und nicht etwas Böses oder
    Entsetzliches, oder ein Zeichen der Minderwertigkeit, sondern
    die
    vorübergehende
    Ausuferung
    eines
    reißenden
    Stroms, dem ein vorübergehendes Hemmnis im Wege
    liegt.«
    Drei Tage später fügt er hinzu:
    »Ich habe begriffen, daß die schwere Schuld nicht in der
    analen Masturbation besteht, sondern in der Homosexualität
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    und mir wird schwindlig bei dem Gedanken daran, weil ich
    meine, daß es das Schlimmste ist, was mir passieren
    könnte.«
    Der Ablauf der eben geschilderten psychologischen Vorgänge
    entspricht einem häufig auftretenden Prozeß bei der Psychotherapie, wobei ein Gegenstand oder ein Anliegen (z.B. die Art der Selbstbefriedigung) bedeutungslos wird, während eine substantiellere Frage (hier die fragliche Homosexualität) vermehrt an Gewicht gewinnt. Da macht dann die distanzierte Einstellung den Wandel möglich, während geringfügigere Konflikte im Lauf der Zeit zur Aufarbeitung größerer Konflikte führen,
    die das Leben eher bereichern als vergällen.
    Es folgen einige weitere Beispiele für die wachsende Fähigkeit
    des Patienten zur Selbsterkenntnis:
    »Ich fand nichts mehr schlimm. In den letzten Tagen dachte
    ich an viele Sachen. Ich begriff, daß meine Vorliebe für
    bequeme Kleidung, für Kleidung nach meinem Geschmack
    (ich schäme mich nachträglich, daß ich dies als erstes aufzählte, als Dr. N. mich fragte, was ich gern täte) daher stammt, daß meine Mutter mich zwang, Kleider zu tragen,
    die ich demütigend fand. Ich begriff, weshalb ich nicht tue,
    was ich gerne tue oder was ich für zweckmäßig halte: weil das
    für mich eine Obliegenheit ist und meine Mutter mich achtundzwanzig Jahre lang über diese meine Obliegenheiten unterrichtet hat. Daß ich nicht mit meinen Freundinnen telefonieren wollte, wenn meine Mutter oder mein Vater zugegen waren, mag auf sexuelle Schuldgefühle zurückzuführen sein.
    Auch fühlte ich mich immer schuldig, wenn ich für andere
    Frauen Liebe empfand, die ich meiner Mutter ja vorenthal-
    ten hatte.«
    Ich halte es nicht für zufällig, daß diese Passage, die über seine
    Einsicht in drei verschiedene Situationen Aufschluß gibt, mit
    der Feststellung beginnt: »Ich fand nichts

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