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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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behaupten, daß ich diese Kraft bin, weil sie
    eine eingegrenzte Kraft ist. nur zur Nutzung.
    A.: Woher wissen Sie das?
    P.: Nun, der Rahmen, in dem sie sich ausdrückt . . . Telefonmaste, untereinander mit Drähten verbunden.
    A.: Zuerst war das aber der Gesang von drei Frauen.
    P.: Ja, das stimmt.
    A.: Der Löwe führte sie an einen sehr schönen Ort. Während
    sie horchten . . .
    P.: Tatsächlich, sie singen eine Hymne.
    A.: Mit welchen Worten würden Sie den Gefühlsgehalt dieser Hymne zu vermitteln versuchen?
    P.: Höchstes Lob Gottes, oder auf höchster Ebene.
    Vermutlich hätte ich nicht das Bild des Löwen als Ausgangspunkt für die Exploration gewählt, wäre mir nicht schon vor dieser Sitzung bekannt gewesen, welche vorrangige Rolle die
    Großkatzen nicht nur in der Harmalin-Erfahrung, in der Überlieferung des südamerikanischen Schamanismus, sondern in den Mythen überall auf der Welt spielen. Der Löwe als Führer
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    zum Bereich des Heiligen kommt nicht allein in der oben wiedergegebenen Schauung vor; die gleiche Rolle spielt auch der Jaguar in den Visionen der Indianer, der Tiger und die Schlange
    in den visionären Erfahrungen vieler anderer Menschen und
    Völker. Selbst die in der vorangegangenen Aufzeichnung anklingende Zuordnung von Löwe und Sonne - der Löwe schreitet über die Darstellung der Sonne, er ist goldfarben - hat ihr Gegenstück in der südamerikanischen Mythologie, für die der
    Jaguar die Inkarnation der Sonnenenergie schlechthin darstellt.
    Der Ablauf der Bilderfolgen und ihre Erörterung darf als Prozeß der allmählichen Entfaltung einer Erfahrung einer Kraft verstanden werden, die sich zunächst in erstarrter Form in der
    Löwenskulptur zeigt, deren Emanation in der Farbe des Löwen
    und in seiner Angriffsbereitschaft Gestalt annimmt und dem
    Betrachter danach als lebendiges, dann als ein hungriges Tier
    entgegentritt. Zuletzt spricht sie den Analysanden über das
    Gehör an, weniger über das Auge, und zwar in Form vibrierender elektrischer Impulse.
    Dennoch fehlt an der ganzen Sache noch etwas. So reich die
    Episode an Bedeutungen oder mythischen Obertönen sein
    mag, bleibt die Patientin doch distanzierter Betrachter. Von
    ihren ästhetischen Empfindungen abgesehen, hat sie zu den
    traumhaften Abläufen nur geringe Beziehung. Das Bild des
    Löwen enthüllt nach und nach, sich gleich einem Samen zu
    einem Baum entfaltend, seinen Gehalt, der darüber hinaus in
    visuelle Symbole eingekleidet wird. Es ist hier ähnlich wie bei
    der Kunst: Je nach dem Stadium seiner künstlerischen Erkenntnis berührt sie den Betrachter in seinen Wesenstiefen oder läßt ihn völlig kalt.
    Vielleicht hat der Leser bemerkt, daß mein Eingreifen meist
    darauf abzielte, die Aufmerksamkeit der Patientin auf ihre
    eigenen Empfindungen zu zentrieren, für die das Geschaute
    zugleich Ausdruck und Substitut ist. Dennoch reagierte sie auf
    meine Fragen meist über das Medium eines neuen Symbols. Als
    ich sie zum Beispiel fragte, wie sie die Farbe des Löwen fände,
    glaubt sie, das warme Fell eines lebenden Tieres zu spüren. Als
    ich sie fragte, wie sich sich in Gesellschaft eines solchen Tieres
    fühle, versuchte sie, sich mit den Gefühlen des Tieres zu identifizieren, und sah es nun in Bewegung (es gehe in den Dschungel zurück). Befragt, was sie vom Löwen erwarte, sah sie Kinder
    auf seinem Rücken herumklettern. Sie projizierte ihre Wahr146

    nehmungen auf den Bildschirm ihrer Fantasie und blieb daher
    indifferenter
    Betrachter,
    hatte
    Schwierigkeiten,
    einzusteigen
    und sich zu aktivieren. Eine Möglichkeit, sich die Erfahrung
    ihrer nicht eingestandenen Löwennatur wieder zugänglich zu
    machen, hätte darin bestehen können, den Löwen auszuagieren, unter sein Fell zu schlüpfen, um zu erfahren, wie es sich anfühlt, ein Löwe zu sein. Sie widersetzte sich dem jedoch und
    wollte noch nicht einmal die Bewegungen des Löw’en nachahmen oder in der ersten Person Singular an seiner Statt sprechen.
    Die Tendenz der Patientin, ihre Erfahrung in wechselnde Symbole zu projizieren, kommt zugleich in einer Eigenheit ihrer Reaktion zum Ausdruck - in den für Harmalin typischen Abwehrmechanismen, in der Fülle von Kunstformen, die ihre Fantasie in die Darstellung von Darstellungen ausufern läßt.
    Der vermeintliche Obelisk ist aus Granit, obwohl er sich, aus
    der Nähe betrachtet, in eine Rakete verwandelt; der Löwe war
    eine Skulptur in heraldischem Stil aus einem Fries; die Sonne
    bestand aus einem

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