Die Reise zum Ich
tun. Alles war von Gott vorbestimmt,
und das Geschick waltete über allem. Zu rebellieren war
Zeitverschwendung. Außerdem, Jesus war nicht Gott. Dies
sollte nur die Fantasie des Volkes befriedigen. ›Gebildete‹
Leute brauchten nicht an die Göttlichkeit Jesu zu glauben.
Christus war nichts für Aristokraten, die geborene Mystiker
waren, an Gott glaubten und ihn spürten von Geburt an.
Christus diente nur als Mittel, den Leuten Gott zu erklären,
war etwas für die Vulgären und Dummen, die religiöse Vorschriften brauchten, wenn sie sich wie menschliche Wesen benehmen sollten; sonst würden sie außer Rand und Band
geraten und fortgesetzt Revolution machen. Trotz alledem
glaubte meine Mutter, die an Christus nicht glaubte, an etwa
ein halbes Dutzend Jungfrauen und eine lange Reihe von
Heiligen.
Dann kamen die Prozessionen in Süditalien. Wir hatten da167
heim auch Prozessionen, doch unsere waren schön, mit vielen Blumen und Feuerwerk hinterdrein. Sie waren ein großes Fest, alle freuten sich. In allen Häusern wurden köstliche
Speisen gekocht und ein besonderes Gebäck bereitet, das es
nur zu bestimmten Festen gab. In Süditalien war das anders.
Hier war niemand fröhlich. Alle, die an der Prozession teil-
nahmen, jammerten und klagten, die Zuschauer ebenso. Alles trug Kapuzen. Alte Männer in schwarzen Gewändern und schwarzen
Kapuzen
sangen
unrein
einen
Klagegesang.
Dichtgedrängt sahen die Leute zu und weinten. Frauen knieten auf der Straße nieder, andere schrien hysterisch auf und nicht wenige fielen in Ohnmacht. Es war ein rächender Gott,
der Blut für das Blut verlangte, das er vergossen hatte. Er ließ
sich das ganze Geschrei und Getue gefallen. All das faszinierte mich und stieß mich gleichzeitig ab. Mein Gott war nicht in ihnen. Er war auch nicht in mir. Nicht mehr ein Gott
der Liebe, sondern ein Schlächter, der Opfer forderte, und
ich wollte nicht zu diesen Opfern gehören.
Dann kam Gott nach der Uhr. Ich mußte lernen, mußte
Äpfel essen, zur Messe gehen. Kindermesse, morgens um
viertel nach acht. Nicht am Nachmittag, das wäre gleichbedeutend mit Faulheit gewesen. Niemand fragte mich, ob ich in die Messe gehen wollte. Nach meiner ersten Kommunion
mußte ich jeden Sonntag zur Kommunion gehen. Man fragte
mich: ›Gehst du in die Kirche?‹, und diese Frage war ein
Befehl, wie die Frage: ›Hast du dir die Zähne geputzt?‹ (Ich
haßte es damals.)
Dann, Entfernung. Ein undefinierbares Unbehagen.
Zweifel, Vorbehalte, immerzu. Aber Gott war sehr weit weg.
Gott, verloren. Der Wunsch zurückzukehren. Hin und wieder Kommunion. Doch dann wieder Zweifel, Indifferenz und erneute Suche. Schließlich wurde Gott begraben. Es interessierte mich nicht. Ich sehe nicht ein, warum ich mich zu interessieren habe. Und dann traten die Symptome auf. Ich
kann keine Kirche betreten. In der Kirche ist das Auge.
Wahrhaftig, das Auge ist überall, beobachtet alle Kinder und
straft sie, wenn sie sich nicht benehmen.«
All dies schrieb sie am Tag nach der Harmalin-Erfahrung nieder, und wie wichtig das war, ist dem Text zu entnehmen. Auch war es nicht das einzige Mal, daß die Niederschrift des während
der Drogenerfahrung ablaufenden Prozesses fast ebenso wichtig war wie die Behandlung als solche. Das Verdrängte wird 168
dermaßen verdrängt, daß Assoziationen und Gefühle, wenn
nicht gar Bilder »vergessen« werden, wenn sie nicht sofort
mündlich oder schriftlich festgehalten werden. In diesem Fall
konnte dies verständlicherweise besonders leicht geschehen, da
bei der Sitzung fast unerträgliche Schuldgefühle aufgedeckt
wurden. Dies war es, was am Anfang ihrer Niederschrift das
Gefühl in ihr auslöste, sie werde verrückt oder sie sei schon tot.
Dieses Empfinden wandelte sich immerhin, als ihr bewußt
wurde, daß dieses Schuldgefühl sie ihr ganzes Leben lang in
Gestalt des göttlichen Auges verfolgt hatte, heute aber in ihrem
Unterbewußtsein begraben lag. Dies sei indes nur ein fragmentarischer Bericht, meinte sie, und es dauerte einen ganzen Monat, ehe sie den Versuch unternahm, sich noch mehr von ihrer Drogenerfahrung in Erinnerung zu rufen. Einiges davon geben
die folgenden Abschnitte wieder. Als Beitrag zur Religionsphilosophie dürften sie nicht ganz uninteressant sein:
»Nach der ersten Harmalindosis hatte ich deutlich das Gefühl, daß Gott sich für den Tod zu rechtfertigen habe. Für das nutzlose unnötige Sterben all derer, die im Krieg den
Weitere Kostenlose Bücher