Die Reise zum Ich
Tod
fanden, die ihr Leben nicht zu Ende leben konnten. Ich
glaube, ich sehe jetzt klarer. Ich mußte den Tod als solchen
gutheißen und nicht nur den Tod derer, die im Krieg fielen.
Und ich meine, wenn ich den Tod rechtfertigen wollte, müßte
ich letztlich auch die Absurdität eines begrenzten, endlichen
Lebens, zu dem auch das Sterben gehört, bejahen.
Ich versuche nun, mir meine Gedanken nach der zweiten
Harmalin-Erfahrung in Erinnerung zu rufen. Der einzige
Tod, der einer Rechtfertigung bedurfte, war der Tod Christi.
Jeder von uns ist für die Rechtfertigung seines Sterbens
mitverantwortlich, damit es nicht vergebens geschah. Das
heißt, daß Gott seinen Sohn opferte, ist an sich nicht zu
rechtfertigen. Jeder von uns kann Christus noch einmal umbringen oder ihn wieder auferstehen lassen. Daher die Kommunion. Sie ist ein bewußter freiwilliger Akt der Bereitschaft, Christi Tod einen Sinn zu geben: durch tiefe Ehrfurcht und Liebe für alles Lebende, denn in jeder Kreatur ist etwas vom Wesen Gottes. Dies ist ein Weg zur Teilhabe an
der Harmonie des Universums. Ebenso ist es ein Weg, Christus in den Tiefen unseres eigenen Wesens wieder auferstehen zu lassen. Doch meine Sehnsucht nach Heiliger Kommunion hatte noch eine menschliche Seite. Es war die Sehnsucht, brüderlich mit anderen Wesen verbunden zu sein, die 169
sich zur gleichen Liebe zu Christus bekannten. Dies warein
Weg, sich weniger allein zu fühlen und ohne Individualitätsverlust einer Gruppe anzugehören.«
Aus diesen Zeilen ist zu ersehen, daß nach der zweiten Drogen-
Erfahrung das Grundanliegen unserer Patientin darin bestand,
die Unvermeidlichkeit ihres eigenen Todes hinnehmen zu lernen. Einmal war sie im Begriff gewesen, ihn zu akzeptieren: Als sie sich als sinnliche Frau sah, die im roten Kleid über die
gefährliche Kreuzung tanzte. Der Tod »kümmert sie nicht« und
läßt sie ihren eigenen Tod hinnehmen, weil »die Dinge nun
einmal so sind«. Sie widersetzt sich dem Tod ebensowenig, wie
sie sich dem Leben widersetzt, sie ist betont erotisch und genießt jede Bewegung beim Tanz. Indem sie sich weder Leben noch Tod widersetzt, indem sie es hinnimmt, daß es sie gibt,
jenseits von Gut und Böse, transzendiert sie Leben und Tod.
Indem sie dies akzeptiert, verleiht sie ihm körperlich Ausdruck,
da der Tanz Ausdruck ihrer inneren Musik ist. Dennoch bleibt
sie, von diesem Augenblick abgesehen, weiterhin Kampfplatz
von Eros und Thanatos. Ihr Todeswunsch ist die Antwort auf
den Anspruch eines Gottes, der Sex für etwas Böses hält, jener
rachsüchtige, blutdürstige Gott der süditalienischen Prozessionen, den sie in ihrem Innern begraben hatte und in den Kirchen vermied. Dennoch verlangt ihr nach ihm, und so muß sie seine
Verurteilung durchleiden: »Ich brauche Gott und bin doch
ganz und gar Sex.« Nach dieser Sitzung litt sie nicht nur unter
Schuldgefühlen, sie wurde frigide und gelegentlich beim Geschlechtsverkehr von den gleichen Ängsten befallen, an denen sie auch auf der Straße litt.
In den folgenden Monaten wurde das Traumleben der Patientin
sehr viel reicher, und in ihren Träumen tauchten die gleichen
Symbole auf, die sie zuvor unter Harmalin oder deren Äquivalenten kontempliert hatte. In einem ihrer Träume wiederholten sich die Elemente Tanz, Dunkelhäutigkeit und jene Spaltung
der Persönlichkeit, die schon in beiden Sitzungen vorgekommen waren: Widerspiegelungen ihrer gegenwärtigen sexuellen Schuldgefühle: »Ich war zwei Personen zugleich. Die eine war
nackt, eine tanzende Negerin, die andere sah ihr entsetzt zu.«
Im nächsten Traum verbinden sich sexuelle Impulse mit dem
Tigersymbol: »Ich lag an einem Swimmingpool und ließ mich
von der Sonne bräunen. Da tauchte mein Freund Alfred auf.
Dann sah ich mich von einer Art Tigerfell bedeckt. Darunter
trug ich einen Bikini. Er nahm die Decke auf. Ich aber sagte:
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»Nein, deck mich zu.« »Warum denn?« »Weil ich so nackter
aussehe.«
Auch das freie Assoziieren der Patientin durchlief in dieser
Periode einen sichtlichen Wandel. Sexuelle Themen spielten
nicht nur in ihren Gedanken und Träumen eine größere Rolle,
sie stiegen sogar in ihren Erinnerungen an die Oberfläche, und
zum ersten Mal wurde ihr bewußt, daß ihre Beziehung zu ihrem
Vater eine sexuelle Komponente gehabt hatte. Darauf wies die
Szene bei ihrer ersten Harmalin-Sitzung hin, als sie ihren Vater
auf den Mund küßte; magnetisch beschwor dies
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