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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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Schnurrbart. Ein typisch chilenisches Gesicht, wie man es in jeder Straße sieht.
    Er sagt: ›Guten Tag‹. Ich erwidere seinen Gruß. Ich habe das
    dunkle Gefühl, daß er der Mann ist, der mich im Fahrstuhl
    anfiel, obwohl ich mich an dessen Gesicht nicht mehr erinnern kann. Ich gehe weiter zur Avenida Portugal, doch mit großer Mühe, weil ich nicht wieder ins Schweben geraten
    will. Ich halte mich dicht an die Mauern des Universitätsgebäudes, damit ich an ihnen Halt habe, sollte ich wieder fallen.
    Ich blicke auf die Palmen und da sehe ich im Himmel eine
    Prozession von Bischöfen, alle in einer Reihe, alle im Ornat,
    mit Mitra und Roben aus Weiß und Gold, einer wie der
    andere, und alle sehen sie aus wie nehru.«
    Hier beginnt der erste Traum zu verblassen. Den zweiten Versuch unternahmen wir gegen Ende der Sitzung, nach der Höllenvision: Als sie versucht, die Alameda an der gleichen Stelle zu überqueren, fällt ein Krokodil vom Himmel.
    »Es ist ein graues Krokodil mit einem grünen Muster auf dem
    Rücken, und ich glaube, es ist aus Plastik, denn echte Krokodile sehen nicht so aus. Ich gehe bis zur Straßenmitte hinüber.
    Dann nimmt der Verkehr stark zu, so daß eine ununterbrochene Reihe von Wagen in hoher Geschwindigkeit auf jeder Fahrbahn in entgegengesetzter Richtung dahineilt. Ich gerate in Panik, als ich mich neben den Wagen im gleichen Tempo dahinrennen sehe. ›Was für eine verrückte Frau!«
    Dies darf nicht sein und ich zwinge mich wieder auf meinen
    Platz zurück, wo ich vorher stand. Die Lichter wechseln, der
    Verkehr kommt zum Stehen und ich gehe vorsätzlich langsam auf die andere Seite der Avenida hinüber. Von dort gehe ich zur Universität. Leute gehen vorbei - häßliche Menschen, dicke Frauen, schlecht angezogen -, und mir ist, als müßte ich all diese Gesichter betrachten, so häßlich sie auch
    sein mögen. Ich vergleiche sie mit denen, die ich in einem
    früheren Traum sah. Diese waren speziell für mich da, damit
    ich sie ansehe, ohne Furcht und ohne Anteilnahme vielleicht.
    Alle waren sie häßlich, unangenehm. Immer habe ich nach
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    Schönheit getrachtet, nach Licht und Harmonie. Nun aber
    erkannte ich, daß das Schöne und das Häßliche lediglich zwei
    Aspekte ein und desselben Ganzen sind. Das heißt, ohne
    Häßlichkeit verliert die Schönheit ihre Qualität als solche,
    ihre Besonderheit. Wieder blickte ich den die Straße überquerenden Menschen ins Gesicht. Da kam ein Mann mit einer Narbe daher, als wäre ihm ein Stück Fleisch aus der
    Wange gebissen worden oder als sei sein Gesicht von einer
    Säure verbrannt. Mir war, als müsse ich sie alle ansehen, so
    wie die Gesichter in meinem vorigen Traum.«
    Trotz ihrer Ähnlichkeit habe ich beide Sequenzen angeführt,
    und zwar wegen der Übereinstimmung, die diese Ähnlichkeit
    verrät, während die Wiedergabe nur eines Wachtraums den
    Eindruck einer ziemlich chaotischen oder willkürlichen Aneinanderreihung von Bildern hervorrufen würde. In beiden erlebt die Patientin die bekannte Angst vor dem Fallen und die ständige Suche nach einem Halt (am Baum und an der Mauer), ln beiden hat indes ihre Konfrontation mit der Angst überraschende Verkörperungen der Bedrohung zur Folge: Ein ganz durchschnittlicher Mann erinnert sic an einen anderen, der sie
    einst anfiel, und das vom Himmel gefallene Krokodil. Das
    Krokodil spielte auch in dem späteren (geschilderten) Wachtraum dieser Patientin eine Rolle, was die Bedeutsamkeit dieses Bildsymbols verrät, mag es ihr auch wie ein Plastiktier Vorkommen. Dieses Phänomen, daß sich ein Tier in ein Spielzeug oder ein Cartoon verwandelt, tritt gemeinhin immer dann auf, wenn sich das Bewußtsein gegen möglicherweise durch
    bestimmte Bilder wachgerufene Erinnerungen und Empfindungen sträubt. Interessant ist die für ihre Phobie aufschlußreiche farbliche Parallele zwischen den Symbolen: Grau mit einem grünen Muster auf dem Rücken ist das Krokodil, und Grau ist
    die Farbe der gefürchteten Straße, die durch das Grün der
    Bäume erträglicher wird.
    Nicht nur das Krokodil und Aggressor, auch der irrsinnige
    Verkehr ist ein Ausdruck der Gewalt, und sie ist es, vor der sich
    die Patientin, ohne sich dessen bewußt zu werden, auf der
    Straße fürchtet und die jene Phobie wie auch die sie begleitenden körperlichen Symptome auslöste. Im Traum sah sie sich jetzt mit Gesichtern konfrontiert, deren Anblick sie normalerweise vermieden hätte (und nach dieser hörte sie auf, sich im Kino

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