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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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die Augen zuzuhalten). Die Gesichter wurden später bei
    ihren Kriegserinnerungen noch einmal assoziiert, vornehmlich
    163

    eines - das des Mannes mit der Gesichtswunde — rief die verdrängte Erinnerung an einen Eindruck in ihr wach, der sie entsetzt hatte: ein verwundeter Soldat war die Straße entlanggerannt.
    Im Ganzen gesehen, hatte diese Sitzung für die Patientin eine in
    mehrfacher Hinsicht positive Wirkung, doch ihre Phobie war
    nicht verschwunden. Allerdings hatte sich ihre Furcht qualitativ
    verändert. Während sie bisher immer Angst gehabt hatte, auf
    der Straße ohnmächtig zu werden oder zu fallen, fürchtete sie
    jetzt, überfallen zu werden. Neuerdings war es das Quietschen
    der Trolleybusräder und das Getöse der Lastwagen, die ihr
    Schrecken einjagten, und im Wachtraum wurde sie nun von
    einem Mann mit einem Messer angegriffen. Weitere analytische Sitzungen erbrachten eine steigende Vielfalt an symptomatischen Assoziationen, unter anderem in Zusammenhang mit dem vorhin erwähnten Mann: im Alter von vierzehn Jahren
    war sie einmal angefallen worden, hatte es aber nie erwähnt
    oder für wichtig gehalten. Dies tauchte nun wieder in ihrer
    Erinnerung auf.
    Zwei Monate später, nach der Veränderung ihrer Symptome,
    wandte ich ein zweites Mal Harmalin bei ihr an. Im Anschluß
    daran entstand folgende Niederschrift, die ich hier ausführlich
    zitiere, da sie in vielerlei Hinsicht interessant ist:
    »Es fällt mir sehr schwer, meine Erlebnisse zu rekonstruieren. Ich kann mich an nichts erinnern. Ich sehe nur unzusammenhängende Bilder: das Mädchen - das bin ich - vor der Kirche auf einer staubigen Straße, ich selber bei der
    Kommunion, erhalte die Hostie aus unsichtbarer Hand vor
    einem prunkvollen Altar.
    Mir ist, als würde ich verrückt. Irgend etwas in mir. Nicht zu
    beschreiben. Es ist nicht Angst, nicht Depression, doch eine
    Mischung aus beiden. Ich fühle mich irritiert, desorientiert.
    Ich hin tot. Ich muß noch einmal ins Leben zurück. Sex. Ich
    kann ihn nicht akzeptieren. Er ist schlecht. Ich mag ihn. Ich
    bin schlecht. Ich habe das starke Gefühl, daß Gott und Sex
    nicht Zusammengehen. Ich brauche Gott und bin doch ganz
    und gar Sex. Das ist schrecklich. Ich denke, es muß einen
    Weg geben, diese Dinge unter einen Hut zu bringen, aber
    außerhalb meiner, nicht in mir. Ich sehe einer Realität an mir
    ins Gesicht, die ich nicht zu akzeptieren vermag. Ich glaube,
    das ist der Grund dafür, daß ich mich so fühle, wie ich es
    tue.
    164

    Gestern wußte ich auch, warum ich es nicht fertigbrachte, auf
    die Straße zu gehen. Heute nicht. Es entgleitet mir. Jetzt
    erinnere ich mich. Ich könnte die Alameda überqueren; an
    derselben Stelle, an der ich es in der vorigen Sitzung nicht
    fertiggebracht hatte. Dies geschah, nachdem der Doktor hinausgegangen war. Ich überquerte sie mit Leichtigkeit, und zwar tanzend. Die Musik kam aus mir selbst. Ich trug ein rotes
    Kleid, sehr eng anliegend, glitzernd, mit schimmernden
    Goldornamenten. Doch dieses Kleid war meine eigene Haut.
    Ich überquerte tanzend die Alameda, mitten zwischen den
    Automobilen hindurch, ohne mich um sie zu kümmern. Ich
    genoß es, meine Füße zu bewegen, war selig, zu tanzen, auf
    der Straße zu sein. Verschiedene Wagen kollidierten kopf
    über und bildeten einen immer höher sich türmenden Haufen. Ich ging vorüber, ohne mich viel darum zu kümmern. Ich wußte, daß es vermutlich Tote bei dem Unfall gegeben hatte,
    aber es war mir egal. Ihre Zeit war gekommen, so waren die
    Dinge nun einmal. Ich wußte, daß auch ich eines Tages
    sterben mußte, aber auch das machte nichts aus, denn so war
    es nun einmal. Mein Skelett trug ich schon seit meiner Empfängnis in mir. Das ist es, was ich war: Tanz und Tod und Totentanz. Ich war zugleich mein Tod und mein lebendes
    Skelett und tanzte selig über die Fahrbahn hinweg.
    Aber ich wußte, warum ich vorher die Straße nicht überqueren konnte, warum ich die Straße nicht entlanggehen konnte, und das habe ich jetzt vergessen. Es hatte etwas mit meiner
    Schlechtigkeit zu tun, mit Tod, mit meinem Wunsch zu sterben, weil ich schlecht bin.
    Ich möchte sterben. Oder ich wollte sterben. Ich suchte nach
    diesem kurzen Moment - jenem unendlich kleinen Punkt,
    beziehungsweise jenen in seiner Kürze kaum wahrnehmbaren Bruchteil von Zeit, den Augenblick des Todes, die extrem kurze Brücke, wo Leben und Tod sich berühren, wo das Gegensätzliche, Widersprüchliche und Unvereinbare nicht
    mehr

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