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Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
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unkontrollierte
    Erinnerungen herauf. »Ich liebte meine Mutter, und mehr als
    das«, sagte sie einmal, »aber mein Vater gehörte mir. Er pflegte
    mir zu erzählen, wenn ich älter wäre, würden wir beide allein
    nach Paris reisen. Dieses Versprechen hat er gehalten. Ich hatte
    das Gefühl, wir seien ein Paar. Wir bewegten uns in einer
    eigenen, nur uns gemeinsamen Welt.« Dennoch stand die hier
    geschilderte Bindung, die bedingungslose Akzeptierung ihres
    Vaters, in krassem Widerspruch zu den Tatsachen, derer sie
    sich in bewußtem Zustand erinnerte. Ihnen zufolge war ihr
    Vater ein sehr heftiger, herrschsüchtiger Mann gewesen und ist
    als der Verursacher ihrer eigenen unbewußten (nunmehr halbbewußten) Schuldgefühle zu erkennen. Die Feindseligkeit, die sie in bewußtem Zustand weder empfand noch äußerte, tritt in
    ihren damaligen Träumen unverkennbar zu Tage, wie aus Folgendem zu ersehen:
    »Ich träumte von meinem Vater. Ich befand mich in einem
    Keller voller Leichen. Sie waren verstümmelt, entstellt, umgekommen im Krieg. Dies hatte etwas mit Warschau zu tun.
    Mit dem Widerstand des Warschauer Gettos. Ich schritt über
    sie hinweg, trat auf sie. Ich freute mich an ihrem Zustand. Ich
    hob einen abgetrennten Kopf auf und wußte, es war der Kopf
    meines Vaters. Es schien mir ganz in Ordnung, daß er tot
    war.«
    Kurz nach diesem Traum (vier Monate nach ihrer zweiten
    Harmalin-Erfahrung) beraumte ich eine weitere Sitzung an und
    gab ihr zu den 500 mg Harmalin noch zusätzlich 100 mg Meskalin: Zum ersten Mal verwandelte sich nun ihr Schuldgefühl bei der Konfrontation mit ihrem Vater in Groll, Frustration und
    Trauer. Ich lasse hier eine expressivere Passage aus meinen
    Notizen folgen:
    »Arzt: Warum weinen Sie?
    Patientin: Ich weiß nicht warum. Wegen allem. Ich könnte
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    Tage und Tage immerfort weinen. Ich bin nicht böse. Ich war
    sehr einsam. Ich hätte gern ein Brüderchen oder Schwesterchen gehabt. Nie durfte ich mit einem anderen Kind spielen.
    Meine Mutter pflegte mich zu meiner Großmutter mitzunehmen, damit ich mit meinen Vettern und Kusinen spielen konnte, doch mußten wir immer leise sein und durften uns
    auch nur kurze Zeit miteinander vergnügen, denn mein Vater würde mich schlagen und ihr die Hölle heiß machen, wenn er davon erfuhr. Sie zu schlagen wagte er freilich nicht. Er
    wußte, daß sie wie ein wildes Tier sein und ihn buchstäblich
    umbringen konnte. Ich gebe ihr nicht die geringste Schuld.
    Ich liebte meine Großmutter so sehr! Aber dieser Unhold
    erlaubte mir nicht, sie zu besuchen. Ich mußte lügen, und ich
    log schlecht. Und später wunderte er sich, daß ich andere
    Kinder nicht ertragen konnte. Für mich waren sie seltsame
    Wesen; sie kannten Spiele, von deren Existenz ich noch nicht
    einmal eine Ahnung hatte. Vermutlich konnte ich mir gar
    nicht vorstellen, daß es so etwas wie Kinderspiele gab. Ich
    hasse diesen Alten! Sie hatte so sehr unter ihm zu leiden!
    Und wie gut war meine Mutter zu mir! Sie war nicht dazu
    geboren, eingesperrt zu werden, und der Alte machte immer
    ein Aufhebens und regte sich auf! Über ganz dumme Kleinigkeiten! Warum durfte ich meine Großmutter nicht besuchen? Nicht, daß er sie nicht mochte. Ich meine, er war eifersüchtig. Er wollte mich ganz für sich allein.
    A.: Und Sie räumten ihm diesen Ausschließlichkeitsanspruch ein?
    P.: Später ja, doch damals hatte ich keine Wahl. Es war in
    der schlimmsten Kriegszeit, und es blieb mir nichts anderes
    übrig, als mit ihm zu gehen. Er war es, der mich überall hin
    mitnahm. Meine Mutter nicht mehr. Vielleicht wollte sie
    Krach vermeiden. Und an Krach war immer ich schuld. Er
    erlaubte mir nicht, Wasser zu trinken. Einmal bekam er es
    heraus, daß ich welches getrunken hatte und wurde sehr
    zornig auf sie. Es war meine Schuld, aber ich mußte Wasser
    trinken! Er brüllte so laut, daß ich am liebsten von zu Hause
    ausgerissen wäre . . .
    Er war so voller Leben, voller Energie, und das verschwendete er alles auf idiotische Nichtigkeiten. Er widmete sich noch nicht einmal seiner Lieblingsbeschäftigung, der Mathematik. Er ist die Absurdität in Person. Er hat mir viel zu Leide getan, obwohl er kein schlechter Mensch war - das ist
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    das Traurige daran.«
    Ein vollständiges Bild der inneren Entwicklung der Patientin zu
    geben, würde sehr viel mehr Raum beanspruchen, doch läßt das
    hier Wiedergegebene immerhin die allmähliche Entfaltung des
    Erkenntnisprozesses im Lauf der verschiedenen

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