Die Reise zum Ich
existiert. Dies war die einzige Möglichkeit, alle Stücke
von mir wieder zusammenzufügen. Dies ist der einzige Weg,
wenn auch nur für einen Augenblick zur Harmonie zu finden.
Der Moment, da man weder lebendig ist noch tot, in diesem
Moment erkennt man. Worin diese Erkenntnis besteht, weiß
ich nicht. Einfach aus Wissen und Verstehen zu gleicher Zeit
... Es ist die Essenz des Lebens, auf die es ankommt, und der
einzige Weg, sie zu erfassen, ist der Augenblick des Sterbens.
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Hier lösen sich die Gegensätze auf: Gott und das Geschlechtliche werden eins, sie vermischen sich. Alle Dinge sind eins, gut und böse, schön und häßlich.
Die Sache ist die, daß ich sterben mußte. Unbewußt hatte ich
den Tod gesucht. Aber freudlos, und ohne es zu wissen. Doch
irgend etwas in mir hielt mich zurück. Straßen sind Tod. Es ist
so leicht zu sterben. Nicht daß ich mich absichtlich vor die
Räder eines Wagens geworfen hätte oder vom Bordstein
herabgetreten wäre. Es war, als funktioniere plötzlich der
Abwehrmechanismus nicht mehr. Ich wollte einfach nichts
realisieren. Dies war mir mehrmals vor Beginn meiner Phobie passiert. Ich ging die Straße entlang und merkte plötzlich, daß ich mehrere Blocks zu weit gegangen war, ohne zu wissen
warum. Und ebenso »wachte ich auf«, mitten auf der Fahrbahn, mitten im dicksten Verkehr. Mehr als einmal schreckte ich erst beim Fluchen eines Taxifahrers auf, der hart auf die
Bremse treten mußte, um mich nicht zu überfahren.
Doch in mir war ein Teil, der nicht sterben wollte. Er wußte,
was los war. Dieser Teil meiner selbst rang mit dem Skelett,
wollte nicht auf die Fahrbahn gehen, wollte sich nicht in
Gefahr begeben. Das aber war das Schlechte in mir. Das
Geschlechtliche
am
Ende?
Und
war es wirklich
das
Schlechte? Denn mir scheint, einer meiner Gründe zu sterben war, das Schlechte in mir umzubringen. Dieses Schlechte ist das Geschlechtliche, aber es ist die einzige Kraft, die
meine Teile wieder vereinen, mir Einheit verleihen, das
Fleisch am Skelett festhalten kann. Tanzen ist auch Sex. Es
scheint gar nicht übel zu sein; es ist das, was mich mit Leben
erfüllt. Doch cs mangelt an einem essentiellen Faktor, einem
unentbehrlichen Katalysator: Gott. Wie kann Gott etwas mit
diesem Durcheinander zu tun haben? Wo war Gott all diese
Zeit?
Mit Gott passierte das Gleiche wie mit dem Skelett. Ursprünglich war er in mir, wuchs mit mir, ging mit mir. Dann verschwand das Skelett. Statt dessen hatte ich ein äußeres,
metallisches Skelett mit juwelenbesetzten Schmetterlingsflü-
geln. Ich suchte nach einem Halt, innerlich wurde ich ganz
trocken. Ich war in einem Schmetterling eingekapselt. Seine
Flügel hatten die Form von Fledermausflügeln, deren Gelenke
metallisch,
unangenehm,
disharmonisch
knackten.
Ebenso war es mit Gott. Er wich aus mir, wurde zu einem
fernen Gott, umgebracht durch den Sadismus eines Dienst166
mädchens, das mir in allen Einzelheiten schilderte, wie er
gekreuzigt und mit Dornen gekrönt wurde. Ich mußte weinen, und durch meine Tränen noch beflügelt, begann sie mir noch viel detaillierter zu beschreiben, wie man Jesus mit dem
Speer in die Seite stach und wie man dem Christkind die Haut
aus dem Munde riß. Ich weiß nicht, ob ich es nicht besser
wußte oder ob es dem Durcheinander der Erzählung zu
verdanken war, daß ich annahm, Jesus sei als Kind gekreuzigt
worden. Vielleicht erregte die Vorstellung, er sei ein kleiner
Junge, mein Mitleid um so mehr. Dann kam die Schule. Und
nun thronte Gott in einer Wolke, in einem fernen Himmel
und trug einen Bart. Und sein Auge saß in einem Dreieck.
Das Auge, das Kain verfolgte. Man sagte uns von diesem
bärtigen Gott auf der Wolke, das sei nicht Gottes wahre
Gestalt, weiter erzählte man uns nichts. Viel aber war von
dem Auge in dem Dreieck die Rede. Es war das Auge Gottes, sein wichtigster und aktivster Teil und allgegenwärtig, blickte stets auf uns nieder, der Teil Gottes, der jedem von
uns sagte, wie böse wir wären, und es jede Sekunde wiederholte. Gott mit seinem Auge war eine Drohung.
Dann der Gott meiner Mutter. Er hatte viel von Allah und
eine Menge Klassenbewußtsein. Alles was geschah, war Gottes Wille. Was man auch tat, würde nichts daran ändern, wie Gott die Dinge arrangiert hatte. Daher gab es keinen Grund
sich aufzuregen oder zu ärgern, und keinen Grund, nach
einem Grund zu suchen. Es gab keine Möglichkeit, etwas zu
ändern oder etwas zu
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