Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Reise zum Ich

Die Reise zum Ich

Titel: Die Reise zum Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Claudio Naranjo
Vom Netzwerk:
Sitzungen sowie die Natur dieses Prozesses erkennen, der schließlich zur Heilung führte. Die Wirkung des Harmalin wird hier zutreffend
    nach osmond als »seelenaufdeckend« bezeichnet, da sie wie der
    Entwickler auf einem Film langsam das Bild ihrer Furcht vor
    Zerstörung und die damit verbundenen Todeswünsche wie
    auch die Gründe für ihren Selbsthaß hervortreten ließ. Einer
    dieser Gründe war ihr sexuelles Schuldgefühl wegen inzestuöser Träume, doch erwiesen sie sich nur als ein Nebenprodukt ihres frustrierenden Verhältnisses zu ihrem Vater: ihres heftigen Wunsches, die Liebe ihres Vaters gleich mit welchen Mitteln zu gewinnen sowie ihrer unbewußten Kapitulation vor seiner Eifersucht und Possessivität, was ihre unbewußte, auf
    krokodilgestaltige Aggressoren projizierte Feindseligkeit in ihr
    nährte und sie in der Meinung bestärkte, von Grund auf
    schlecht zu sein.
    Einen Monat nach dieser letzten Sitzung ging ich außer Landes,
    doch meine Patientin setzte den Prozeß in einer Art Selbstanalyse fort, die ihr zu wachsender Klarheit verhalf. Ein Jahr später schrieb sie mir einen Brief, aus dem ich folgende Abschnitte
    zitiere:
    »Vor vier Tagen ging ich hinaus und lief die Straßen entlang.
    Weshalb? Ich weiß es nicht. Was war geschehen? Es war ein
    wunderschöner Tag: Es war dumm, zu Hause zu bleiben, also
    ging ich aus. Das ist alles. Ganz einfach, wunderbar und
    absurd - nach all dem Suchen, Leiden, Theoretisieren und
    Assoziieren. Ein schöner Tag und sonst nichts. Ich ging mit
    meinem Töchterchen aus. Das war für mich eine große Hilfe.
    Sie im Wagen zu fahren verleiht mir Sicherheit. Außerdem
    beschäftige ich mich dann mit ihr und nicht mit Phantomen.
    Ich bin glücklich, habe aber gleichzeitig Angst. Ich fühle, daß
    ich etwas Kostbares und Zerbrechliches errungen habe, das
    jeden Augenblick zerbrechen oder sich in Luft auflösen
    kann. Es ist, als besäße ich ein neues Werkzeug und könnte
    noch nicht damit umgehen. Jeden Tag bin ich ausgegangen,
    jeden Tag etwas weiter. Doch die Welt scheint mir bereits
    sehr klein. Und außerdem kommt es nicht darauf an zu
    gehen, gehen und immer zu gehen. Ich brauche irgendeinen
    173

    Ort, zu dem ich gehe. Und während ich diese Zeilen schreibe,
    weiß ich nicht, wo dieser Ort sein könnte.
    Ich habe alle meine Vorhaben verwirklicht. (Sie erinnern
    sich? Unterricht geben, Geld verdienen für mein eigenes
    Studium.) Meine Ehe ist noch immer ein Wunder an Nicht-
    Kommunikation. In diesem Augenblick sieht John mich mit
    einem Ausdruck an, als sei ich eine Zeitbombe. Als ich ihm
    sagte, ich wolle allein ausgehen, beglückwünscht er mich
    trocken und ermahnt mich zur Vorsicht, damit ich keine
    neuen Symptome entwickele. Und tatsächlich zeigt sich bei
    mir seit einiger Zeit ein neues Symptom: ein heftiger einseitiger Kopfschmerz. Aber der Grund dafür ist ganz klar: Ich bekomme ihn nur, wenn ich meinen Zorn herunterschlucke.
    Und der Kopfschmerz ist mir lieber als die Phobie. Ich wage
    nicht meinem Ärger Ausdruck zu geben, weil ich ein zu
    heftiges Temperament habe.
    Obwohl mein Symptom verschwunden ist, habe ich das Gefühl, daß ich mehr denn je der Therapie bedarf. Nicht nur fürchte ich einen Rückfall, sondern ich fürchte die Normalität (wenn man überhaupt irgendwen als normal bezeichnen kann). Ich weiß jetzt, daß ich erreichen kann, was ich will,
    denn die von mir selbst errichteten Schranken sind verschwunden. Aber ich weiß nicht, was ich will, und ich habe Angst, es zu wissen. Ich fürchte, es ist etwas Schlechtes. (Ich
    merke, daß ich jetzt an mich selbst schreibe.) Wie aufregend!
    Ich glaubte, ich wolle etwas Schlechtes, doch in dem
    Augenblick, in dem ich das dachte, verwandelte sich das
    »Schlechte« in etwas Lächerliches. Kindisches.
    Jetzt wird aus meinem Brief glücklich eine schriftliche Analyse-Sitzung. Noch dazu eine frustrierende. Ich würde Ihnen gern etwas anderes berichten - wie glücklich ich bin, trotz
    meiner
    gelegentlichen
    Kopfschmerzen
    und
    Depressionen
    und törichten Probleme, und wie nahe ich mich Ihnen fühlte,
    als ich das erste Mal ausging - beinahe hätte ich Sie angerufen, um es Ihnen zu berichten.«
    Vier Jahre sind unterdes vergangen und haben gezeigt, daß die
    Besserung von Dauer war. Die Probleme, die sie zur Zeit dieses
    Briefes bewegten, sind zwar noch die gleichen, die sich in ihren
    Harmalin-Sitzungen gezeigt hatten - Schwierigkeiten, ihrem
    Zorn vernünftigen Ausdruck zu geben und Zweifel, ob

Weitere Kostenlose Bücher