Die Reise zum Ich
Sitzungen sowie die Natur dieses Prozesses erkennen, der schließlich zur Heilung führte. Die Wirkung des Harmalin wird hier zutreffend
nach osmond als »seelenaufdeckend« bezeichnet, da sie wie der
Entwickler auf einem Film langsam das Bild ihrer Furcht vor
Zerstörung und die damit verbundenen Todeswünsche wie
auch die Gründe für ihren Selbsthaß hervortreten ließ. Einer
dieser Gründe war ihr sexuelles Schuldgefühl wegen inzestuöser Träume, doch erwiesen sie sich nur als ein Nebenprodukt ihres frustrierenden Verhältnisses zu ihrem Vater: ihres heftigen Wunsches, die Liebe ihres Vaters gleich mit welchen Mitteln zu gewinnen sowie ihrer unbewußten Kapitulation vor seiner Eifersucht und Possessivität, was ihre unbewußte, auf
krokodilgestaltige Aggressoren projizierte Feindseligkeit in ihr
nährte und sie in der Meinung bestärkte, von Grund auf
schlecht zu sein.
Einen Monat nach dieser letzten Sitzung ging ich außer Landes,
doch meine Patientin setzte den Prozeß in einer Art Selbstanalyse fort, die ihr zu wachsender Klarheit verhalf. Ein Jahr später schrieb sie mir einen Brief, aus dem ich folgende Abschnitte
zitiere:
»Vor vier Tagen ging ich hinaus und lief die Straßen entlang.
Weshalb? Ich weiß es nicht. Was war geschehen? Es war ein
wunderschöner Tag: Es war dumm, zu Hause zu bleiben, also
ging ich aus. Das ist alles. Ganz einfach, wunderbar und
absurd - nach all dem Suchen, Leiden, Theoretisieren und
Assoziieren. Ein schöner Tag und sonst nichts. Ich ging mit
meinem Töchterchen aus. Das war für mich eine große Hilfe.
Sie im Wagen zu fahren verleiht mir Sicherheit. Außerdem
beschäftige ich mich dann mit ihr und nicht mit Phantomen.
Ich bin glücklich, habe aber gleichzeitig Angst. Ich fühle, daß
ich etwas Kostbares und Zerbrechliches errungen habe, das
jeden Augenblick zerbrechen oder sich in Luft auflösen
kann. Es ist, als besäße ich ein neues Werkzeug und könnte
noch nicht damit umgehen. Jeden Tag bin ich ausgegangen,
jeden Tag etwas weiter. Doch die Welt scheint mir bereits
sehr klein. Und außerdem kommt es nicht darauf an zu
gehen, gehen und immer zu gehen. Ich brauche irgendeinen
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Ort, zu dem ich gehe. Und während ich diese Zeilen schreibe,
weiß ich nicht, wo dieser Ort sein könnte.
Ich habe alle meine Vorhaben verwirklicht. (Sie erinnern
sich? Unterricht geben, Geld verdienen für mein eigenes
Studium.) Meine Ehe ist noch immer ein Wunder an Nicht-
Kommunikation. In diesem Augenblick sieht John mich mit
einem Ausdruck an, als sei ich eine Zeitbombe. Als ich ihm
sagte, ich wolle allein ausgehen, beglückwünscht er mich
trocken und ermahnt mich zur Vorsicht, damit ich keine
neuen Symptome entwickele. Und tatsächlich zeigt sich bei
mir seit einiger Zeit ein neues Symptom: ein heftiger einseitiger Kopfschmerz. Aber der Grund dafür ist ganz klar: Ich bekomme ihn nur, wenn ich meinen Zorn herunterschlucke.
Und der Kopfschmerz ist mir lieber als die Phobie. Ich wage
nicht meinem Ärger Ausdruck zu geben, weil ich ein zu
heftiges Temperament habe.
Obwohl mein Symptom verschwunden ist, habe ich das Gefühl, daß ich mehr denn je der Therapie bedarf. Nicht nur fürchte ich einen Rückfall, sondern ich fürchte die Normalität (wenn man überhaupt irgendwen als normal bezeichnen kann). Ich weiß jetzt, daß ich erreichen kann, was ich will,
denn die von mir selbst errichteten Schranken sind verschwunden. Aber ich weiß nicht, was ich will, und ich habe Angst, es zu wissen. Ich fürchte, es ist etwas Schlechtes. (Ich
merke, daß ich jetzt an mich selbst schreibe.) Wie aufregend!
Ich glaubte, ich wolle etwas Schlechtes, doch in dem
Augenblick, in dem ich das dachte, verwandelte sich das
»Schlechte« in etwas Lächerliches. Kindisches.
Jetzt wird aus meinem Brief glücklich eine schriftliche Analyse-Sitzung. Noch dazu eine frustrierende. Ich würde Ihnen gern etwas anderes berichten - wie glücklich ich bin, trotz
meiner
gelegentlichen
Kopfschmerzen
und
Depressionen
und törichten Probleme, und wie nahe ich mich Ihnen fühlte,
als ich das erste Mal ausging - beinahe hätte ich Sie angerufen, um es Ihnen zu berichten.«
Vier Jahre sind unterdes vergangen und haben gezeigt, daß die
Besserung von Dauer war. Die Probleme, die sie zur Zeit dieses
Briefes bewegten, sind zwar noch die gleichen, die sich in ihren
Harmalin-Sitzungen gezeigt hatten - Schwierigkeiten, ihrem
Zorn vernünftigen Ausdruck zu geben und Zweifel, ob
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