Die Reise Zur Stadt Der Toten
studieren zu können. Viel interessanter als die Silhouette des Tragflächenbootes war für einen Mai-Seemann die Tatsache, daß es sich mit unmöglicher Geschwindigkeit und gegen den Wind bewegte, ganz zu schweigen davon, daß das ohne Segel geschah. Während Lyra ihr Boot um das mächtige Handelsschiff herumsteuerte, um es sich gründlich ansehen zu können, rannten Mai-Matrosen und Passagiere von Reling zu Reling, um dasselbe zu tun.
Nachdem die Redowls den Segler für ihr Journal aufgezeichnet hatten, fuhren sie durch eine Flotte flachrumpfiger Fischerboote, die an diesem Übergang zwischen Süß- und Salzwasser reiche Beute einbrachten.
Während sie ihre Fahrt verlangsamten, um sich leichter zwischen den ersten kleinen Inseln und Ansammlungen von Pseudopalmen bewegen zu können, nahm plötzlich ein großes Schiff Kurs auf sie. Seine Insassen wirkten eifrig und interessiert und unterstrichen diesen Eindruck durch lange Äxte und Piken, mit denen sie hantierten. Die Mai hätten sich ohne Zweifel eine Freude daraus gemacht, den zwei Menschen die Kehlen aufzuschlitzen, um sich in den Besitz des wertvollen Tragflächenbootes zu setzen. Etienne empfand einige höchst unwissenschaftliche Gedanken, während Lyra den Fahrthebel betätigte und damit die Möchtegern-Piraten hinter sich zurückließ.
»Ekelhafte kleine Bastarde!« murmelte er und blickte nach achtern.
»Damit zeigst du aber nicht gerade viel Verständnis für eine primitive Kultur, Etienne«, sagte Lyra mißbilligend.
»Also gut, dann sind es eben primitive, ekelhafte, kleine Bastarde.«
»Habgierig, nicht bösartig«, beharrte sie. »Du mußt versuchen, sie im Licht der Gesetze ihrer Gesellschaft zu sehen. Eine typische primitive, plutokratische Kultur, wo persönlicher Wohlstand den gesellschaftlichen Status des Individuums kennzeichnet. Du darfst nicht zulassen, daß dein eigener Standpunkt deine Beobachtungen beeinträchtigt.«
»Den Teufel darf ich das nicht! Porlezmozmith hat in bezug auf die Mai ganz dieselben Empfindungen.«
»Die ist auch Administrator, eine Bürokratin, eine Byte-Zählerin, die nichts von Xenologie weiß und sich auch überhaupt nicht dafür interessiert.«
»Ich habe ja nur gesagt, daß ein paar von ihren überkommenen Gewohnheiten einige Veränderung vertragen könnten.«
»Ihre Handlungen werden von ihrer Umgebung diktiert, nicht von persönlicher Entscheidung.«
»Welcher Umgebung?« Er machte eine weitausholende Handbewegung, die die näherrückende Linie hoher Bäume miteinbezog. »Das hier ist warmes, üppiges Land. Wie kann so etwas in eine so kämpferische Gesellschaft führen?«
»Sie haben den größten Teil ihrer natürlichen Aggressionstriebe in Wettbewerb, in Handel und Wandel sublimiert. Ist das denn nicht besser als organisierte Kriegsführung zwischen den Stadtstaaten?«
»Gesünder schon, sicher. Aber in puncto Zivilisation könnte man durchaus dafür sein, sich mit seinem Nachbarn einmal richtig durchzuprügeln, anstatt ihn auszurauben.«
»Ihr diebisches Wesen wird von einem sehr strengen Kodex bestimmt, Etienne, und das ist etwas, was man für den Krieg nicht sagen kann.«
»Überlaß mir die Struktur der planetarischen Kruste und nicht die der Mai-Gesellschaft; die ist sauberer.«
»Du meinst wohl, einfacher, oder nicht? In der Geologie gibt es so wenige Variablen; das macht es dir leicht. Aber ich bin dir nicht neidisch. Im Studium der täglichen Aktivitäten eines Steins gibt es keine Persönlichkeit und keine Freude.«
»Nein? Da kann ich dir sagen …«
So ging es noch ein paar Minuten weiter, bis Lyra das Gespräch schließlich beendete, wie sie das immer tat. In letzter Zeit schienen viele ihrer Diskussionen so zu enden.
»Nun, wenn du es so aufnimmst, werde ich einfach nicht mehr darüber reden.« Und damit wandte sie resolut den Blick von ihm und widmete sich wieder ganz dem Scanner.
Auf dem ganzen Rückweg zur Station schwieg er schmollend.
Eine Offizierin erwartete sie in der Bootsbucht. Etienne kletterte an einem Seil nach oben und schickte sich an, die Kuppler hinunterzulassen. Die Offizierin trat neben ihn.
»Entschuldigen Sie, bitte.« Ihre Symbosprache war grob und ohne Feinheiten, ein gutes Zeichen dafür, daß Horseye vielleicht ihr erster Posten außerplanet war. Sie klammerte sich mit ihren Echt- und Fußhänden an eine Säule und hatte die vier Beine weit auseinandergespreizt. Ihr ganzer Körper schien vor der offenen Bucht zurückzuschrecken.
Das war verständlich.
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