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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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schwanden schnell. Die Blutung hatte aufgehört. Anrühren ließ er sich noch immer nicht. Der Journalist saß neben ihm auf dem Steinfußboden.
Von den Otarks wurden sie nicht belästigt, sie machten keinen Versuch, durch die Tür einzudringen, warfen auch keine Granate mehr. Der Stimmenlärm draußen ebbte bald ab, bald lebte er wieder auf.
Als die Sonne untergegangen war und es kühler wurde, bat der Förster um etwas zu trinken. Der Journalist gab ihm Wasser aus der Feldflasche und rieb ihm das Gesicht mit Wasser ab.
»Vielleicht ist es gut, daß die Otarks erschienen sind«, sagte der Förster. »Jetzt wird es endlich klarer werden, was das ist – der Mensch. Jetzt werden wir erkennen, daß der Mensch nicht nur ein Wesen ist, das Rechnen lernen und Geometrie studieren kann. Sondern etwas anderes. Die Wissenschaftler sind sehr, sehr stolz auf ihre Wissenschaft. Aber die Wissenschaft ist längst noch nicht alles.«
    Miller starb in der Nacht, der Journalist lebte noch drei Tage. Den ersten Tag dachte er nur an Rettung; Verzweiflung und
Hoffnung wechselten einander ab. Einige Male schoß er durch
das Fenster, darauf rechnend, jemand würde die Schüsse hören
und ihm zu Hilfe kommen.
Gegen Abend begriff er, daß diese Hoffnungen illusorisch
waren. Sein Leben kam ihm vor wie zwei Teile, die nichts
miteinander zu tun hatten. Am meisten peinigte ihn die
Vorstellung, daß keinerlei Logik oder Kontinuität die beiden
Teile miteinander verband. Das eine Leben war das glückliche,
vernünftige, ungemein erfolgreiche Leben eines Journalisten,
es hatte sein Ende gefunden, als er zusammen mit Miller aus
der Stadt in die bewaldeten Berge des Mount Bear ritt. Dieses
erste Leben war durchaus nicht dazu angetan, daß er hier auf
der Insel, in diesem gottverlassenen Versuchszentrum, umkam. In seinem zweiten Leben war alles möglich und auch wieder
nicht. Es bestand ganz aus Zufällen. Und es hätte auch überhaupt nicht zu sein brauchen, dieses Leben. Er hätte ablehnen
können hierherzufahren, er war nicht gezwungen gewesen, den
Auftrag eines Redakteurs anzunehmen, hatte die freie Wahl
gehabt. Zum Beispiel hätte er, statt sich mit den Otarks zu
befassen, nach Nubien fliegen und sich dort der Erhaltung
altägyptischer Kulturdenkmäler widmen können. Ein dummer Zufall hatte ihn hierhergeführt. Und gerade das war das Un
heimliche.
Einige Male schob er die Gedanken an das, was mit ihm geschehen war, beiseite, wanderte durch den Saal, berührte die
von der Sonne erhellten Wände, die staubigen Tische. Die Otarks schienen das Interesse an ihm verloren zu haben.
Es waren nur noch wenige auf dem Platz und in dem Bassin.
Manchmal zettelten sie eine Prügelei unter sich an, und einmal
sah Betley mit ersterbendem Herzen, wie sich die Meute auf
einen Artgenossen stürzte, ihn zerfetzte und auffraß. Nachts kam er plötzlich zu der Feststellung, an seinem Untergang sei allein Miller schuld. Angewidert zog er den toten
Förster in den vorderen Raum, direkt zur Tür.
Ein oder zwei Stunden brachte er auf dem Fußboden zu und
flüsterte immer wieder vor sich hin: »O Gott, warum ich?
Ausgerechnet ich?«
Am zweiten Tag ging sein Wasservorrat zur Neige. Durst
peinigte ihn. Er war sich jetzt völlig klar, daß es keine Rettung
geben konnte, und wurde ruhig. Wieder begann er über sein
Leben nachzudenken, doch jetzt sah er es anders. Ihm fiel der
Streit ein, den er gleich am Anfang der Exkursion mit dem
Förster gehabt hatte. Miller hatte ihm gesagt, die Farmer würden nicht mit ihm reden. »Warum nicht?« fragte Betley. –
»Weil Sie im Warmen, im Geborgenen leben«, antwortete
Miller. »Weil Sie zu den Oberen gehören. Zu denen, die sie
verraten haben.« – »Wieso gehöre ich zu den Oberen?« fragte
Betley aufgeregt. »Ich verdiene nicht viel mehr Geld als sie.« –
»Na und?« wandte der Förster ein. »Sie haben eine leichte
Arbeit, beinahe eine Sonntagsarbeit. Während die Menschen
hier all die Jahre über gestorben sind, haben Sie Artikelchen
geschrieben, in Restaurants getafelt, kluge Gespräche geführt…«
Ja, Miller hatte recht. Sein Optimismus, auf den er immer so
stolz gewesen ist, war letztlich eine Vogel-Strauß-Philosophie.
Er hatte vor dem Schlechten dieser Welt einfach den Kopf in
den Sand gesteckt. Während er in den Zeitungen von Hinrichtungen in Algier oder dem Hunger in Indien las, überlegte er,
wie er zu mehr Geld kommen und seine große Fünfzimmerwohnung neu möblieren könnte, oder wie es zu erreichen sei,
daß bei

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