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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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dieser oder jener einflußreichen Persönlichkeit sein
Ansehen um einen weiteren Teilstrich auf der Bewertungsskala
nach oben kletterte. Während er alle Probleme von sich schob
und so tat, als gäbe es das alles nicht, schossen Individuen wie
die Otarks, Otark-Menschen sozusagen, die protestierende
Menge nieder, spekulierten mit Brot, bereiteten heimlich den
einen neuen Krieg vor.
Von diesem Standpunkt aus gesehen, war sein ganzes Leben
plötzlich doch sehr eng mit dem verknüpft, was jetzt geschah.
Niemals war er gegen das Übel dieser Welt aufgetreten, nun
bekam er seine Strafe dafür…
Am zweiten Tag versuchten die Otarks einige Male, durch
das Fenster ein Gespräch mit ihm anzuknüpfen. Er gab keine
Antwort.
Ein Otark sagte: »He, komm heraus, Journalist, wir tun dir
nichts.«
Worauf ein anderer hämisch lachte.
Betley dachte wieder über den Förster nach.
Jetzt sah er ihn schon anders. Eigentlich war der Förster ein
Held. Ehrlich gesagt, der einzige wirkliche Held, dem Betley je
begegnet war. Allein, ohne jede Unterstützung, hatte er den
Kampf gegen die Otarks aufgenommen und war unbesiegt
gestorben.
Mit Anbruch des dritten Tages bekam der Journalist Fieber.
In seinen Fieberträumen glaubte er, er sei in die Redaktion
zurückgekehrt und diktiere der Stenographin den Artikel. Der Artikel trug die Überschrift: »Was eigentlich ist der
Mensch?«
Laut diktierte er: »In unserem Jahrhundert hat die Wissenschaft eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht, und
manchmal will es scheinen, als sei sie in der Tat allmächtig.
Stellen wir uns einmal vor, es sei ein künstliches Hirn geschaffen worden, doppelt so leistungsfähig wie das menschliche
Hirn, doppelt so funktionstüchtig. Kann sich ein Wesen, ausgestattet mit diesem Hirn, mit vollem Recht für einen Menschen
halten? Was macht uns denn wirklich zu dem, was wir sind?
Die Fähigkeit zu lesen, zu analysieren, logisch zu interpretieren, oder ist es nicht etwas, das wir durch die Gesellschaft
erworben haben, das im Zusammenhang steht mit dem Verhältnis einer Persönlichkeit zur anderen und mit dem Verhältnis des Individuums zum Kollektiv? Nehmen wir zum Beispiel
die Otarks…«
Seine Gedanken verwirrten sich…
Am selben Tag morgens ertönte eine Explosion. Betley fuhr
aus seinem Fieberschlaf. Ihm war, als sei er aufgesprungen und
halte das Gewehr schußbereit. In Wirklichkeit lag er jedoch
kraftlos auf dem Boden.
Die Schnauze eines Tieres tauchte vor ihm auf. Plötzlich
wurde ihm qualvoll klar, wem Fiedler ähnlich sah: einem
Otark!
Dieser Gedanke verflüchtigte sich jedoch rasch. Betley fühlte
nicht mehr, wie sie ihn marterten, für den Bruchteil einer Sekunde dachte er noch, daß die Otarks in Wahrheit gar nicht so
schrecklich seien, daß es alles in allem in dieser verlassenen
Gegend höchstens ein- oder zweihundert von ihnen gäbe. Man
würde schon mit ihnen fertig werden. Aber die Menschen! Die
Menschen…
Er wußte nicht, daß die Nachricht von Millers Tod schon in
der ganzen Gegend bekannt war und die Farmer in ihrer Verzweiflung die verborgenen Gewehre ausgegraben hatten.
Andrzej Czechowski
Die Rekonstruktion
    Zur großen Pause nach der Geschichtsstunde ging ich mit Rino auf den Hof. Wir hatten etwas über »Die erste Rekonstruktion und ihre moralischen Aspekte« gehört und schon in der Stunde diskutiert. Es war abzusehen, daß wir auch die ganze Pause hindurch nichts anderes tun würden.
    Am Zaun unter der großen Kastanie blieben wir stehen. Die Schultore öffneten sich, und in Zweierreihen kamen die aus der ersten Klasse auf den Hof. Sie verteilten sich über den Sportplatz und begannen »Letzter Mensch« zu spielen. Die Regeln waren einfach, man ging im Kreis und sang dabei:
Keiner weiß, woher er kam, keiner weiß, wozu.
    Wir nahmen unser Gespräch wieder auf. Im Lehrbuch hieß es: »Schon damals lagen die Vorteile der Rekonstruktion auf der Hand. Nichtsdestoweniger waren die Humanisten bereit, ›auf

allen vieren in den Wald zurückzukehren‹, wenn sie damit nur
    ihr Menschenbild hätten retten können.« Rino behauptete, das sei nicht wahr: Die Konservativen hätten unmöglich derart töricht sein können. Ich versuchte ihn zu überzeugen, daß sie es doch waren.
    »Nimm nur diesen Don Quichotte«, sagte ich. »Zu seiner Zeit waren die Windmühlen längst bekannt. Aber er dachte, es wäre ein Feind. Oder nimm diesen Aristoteles.«
    Rino warf ein, das sei etwas ganz anderes. »Sie müssen einen Grund gehabt haben«, sagte er nachdenklich.

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