Die Rekonstruktion des Menschen
»Ich glaube, es ging ihnen um das Herz. Hast du ihre Bücher gelesen? Sie haben andauernd über Gefühle und über Herzen geschrieben.«
»Was hatte das Herz mit Gefühlen zu tun?« fragte ich. »Woher soll ich das wissen? Mal schlug es so, mal so.« Uns wurde allmählich klar, daß wir zu keinem Ergebnis kamen. Rino setzte sich unter den Baum, um seinen Oxygenator zu regulieren. Die Kleinen spielten mit Hingabe. Sie gingen und sangen:
Auch ein Kopf war noch dabei, schwankte und verdrehte sich; Arme zwei und Beine zwei, und er war ganz KÖRPERLICH .
Rino schwieg, also schlug ich das Lehrbuch auf und sah mir die farbigen anatomischen Tafeln an. Auf einer war der Mensch vor der Rekonstruktion zu sehen, alle überflüssigen Organe waren blau dargestellt. Eine weitere Abbildung zeigte seine typischen Defekte, und man sah besser gar nicht hin. Auf der nächsten Seite war der gegenwärtige Mensch abgebildet, in drei Ansichten und einem Querschnitt, außerdem Projekte für die nächsten Rekonstruktionen. Ich zeigte sie Rino.
»Am besten gefällt mir der letzte Entwurf von Ford«, sagte er. Ich dachte bei mir, daß ich jene vergangenen Zeiten wohl nie begreifen würde. Das ist natürlich nicht meine Schuld: Damals konnte einfach noch niemand richtig logisch denken. Mir fiel ein, daß ausgerechnet diejenigen, die am meisten über ihre Gebrechen gejammert hatten, sich nicht ändern lassen wollten, als es zur Rekonstruktion kam. Vielleicht gefiel ihnen die Rekonstruktion gerade darum nicht, weil sie unbedingt nötig war; die nächsten Rekonstruktionen dagegen werden einfach der Annehmlichkeit dienen. Schließlich kam mir der letzte Mensch in den Sinn, aber ich verbannte den Gedanken an ihn sofort wieder; dieses Thema war moralisch zweifelhaft.
Die aus der ersten Klasse waren schon bei der letzten Strophe:
Damit hatte er kein Glück. Lange irrte er umher,
endlich fand er einen Strick,
– hier brachen alle in Gelächter aus – UND DANN GAB ES SIE NICHT MEHR ! Arkadi und Boris Strugazki
Der Wald
Erstes Kapitel
Candide erwachte, und sein erster Gedanke war: Übermorgen gehe ich fort. Da wurde in der Ecke des Raumes auch Nawa in ihrem Bett unruhig und fragte: »Du schläfst nicht mehr?«
»Nein«, antwortete er.
»Dann laß uns miteinander reden«, schlug sie vor. »Wir haben seit gestern abend kein Wort mehr gesprochen. Einverstanden?«
»Einverstanden.«
»Zuerst will ich wissen, wann du fortgehst.«
»Das weiß ich noch nicht«, sagte er. »Bald.«
»Das sagst du immer: bald. Mal bald, mal übermorgen, du denkst vielleicht, das wär’ ein und dasselbe: Das heißt nein, inzwischen hast du ja sprechen gelernt. In der ersten Zeit dagegen hast du immer die Wörter verwechselt, das Haus mit dem Dorf, das Gras mit den Pilzen, sogar die Schatten und Menschen hast du durcheinandergebracht, und manchmal hast du plötzlich etwas vor dich hin gemurmelt, das überhaupt nicht zu verstehen war, niemand von uns hat was verstanden…«
Er schlug die Augen auf und starrte die niedrige, kalkfleckige Decke an. Dort zogen Arbeitsameisen entlang. Sie bewegten sich in zwei gleichförmigen Kolonnen – von links nach rechts die beladenen, von rechts nach links die unbeladenen. Vor einem Monat war es umgekehrt gewesen. Von rechts nach links die mit dem Pilzgeflecht, von links nach rechts die ohne Last. Und einen Monat später würde es abermals umgekehrt sein, vorausgesetzt, sie bekämen keinen anderen Befehl. Denn zu Seiten der Kolonnen standen in weiten Abständen groß und schwarz die Signalgeber, standen reglos, die langen Antennen stets in Bewegung, und harrten der Befehle. Vor einem Monat, dachte Candide, bin ich auch schon mit dem Gedanken erwacht, übermorgen fortzugehen, doch wir sind nirgendwohin aufgebrochen. Und irgendwann früher, vor langer Zeit bereits, bin ich gleichfalls aufgewacht, um übermorgen endlich fortzugehen, aber natürlich sind wir nicht fortgegangen. Doch wenn wir auch diesmal nicht aufbrechen, mach’ ich mich allein auf den Weg. Gewiß, diesen Vorsatz hab’ ich auch früher schon gehabt, diesmal aber werde ich ihn unbedingt in die Tat umsetzen. Gut wäre es, sich sofort aufzumachen, keinem ein Wort zu sagen, niemanden zu überreden, bloß könnte man das nur mit klarem Kopf tun, nicht jetzt. Gut wäre es auch, sich ein für allemal vorzunehmen: Sobald du mit klarem Kopf erwachst, stehst du augenblicklich auf, gehst du auf die Straße hinaus, fort in den Wald und gibst niemandem Gelegenheit, das Wort an dich
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