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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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besser still sein, Schweiger. Oder mir erzählen, wonach ich dich schon so lange frage: Tut es sehr weh, wenn sie einem den Kopf abschneiden?«
»Was geht’s dich an?« rief Nawa. »Warum läßt du ihn nicht in Ruhe?«
»Schreit ‘rum«, konstatierte der Alte. »Schreit mich einfach an. Hat noch kein einziges Kind geboren, aber schreit ‘rum. Warum bringst du kein Kind zur Welt? Wie lange lebst du nun schon mit dem Schweiger zusammen, ohne zu gebären! Alle kriegen Kinder, bloß du nicht. Das darf man nicht. Weißt du überhaupt, was das heißt: nicht dürfen? Das heißt: Es ist unerwünscht, wird nicht gutgeheißen. Wird aber etwas nicht gutgeheißen, so bedeutet das eben, nicht dürfen. Was man darf, ist noch nicht so genau ‘raus, aber was man nicht darf, darf man eben nicht. Das müssen sich alle hinter die Ohren schreiben, um so mehr du, die in einem fremden Dorf lebt und den Schweiger zum Mann bekommen hat. Schon möglich, daß er einen fremden Kopf auf den Schultern hat, einen angenähten, doch der Körper ist gesund, und du hast nicht das Recht, das Kinderkriegen zu verweigern, du darfst es nicht. Womit nochmals bewiesen ist, daß dieses ›Nicht-Dürfen‹ dasselbe bedeutet wie höchst unerwünscht sein…«
Nawa, aufgebracht und beleidigt, schnappte sich den Trog vom Tisch und verschwand mit ihm in der Vorratskammer. Der Alte schaute ihr nach und fügte schniefend hinzu: »Wie sollte denn dieses ›Nicht-Dürfen‹ sonst verstanden werden? Es kann doch nur soviel wie schädlich bedeuten.«
Candide aß zu Ende, stellte den leeren Topf geräuschvoll vor den Alten hin und trat hinaus auf die Straße. Das Haus war über Nacht stark zugewuchert, im dichten Gestrüpp ringsum zeichnete sich nur die schmale Spur ab, die der Alte getreten hatte, sowie ein kleiner Flecken vor der Türschwelle, wo er, unruhig hin und her rutschend, gesessen und gewartet hatte, bis sie erwachten. Die Straße war bereits gesäubert; das grüne, armdicke Knieholz, das gestern aus dem Astgeflecht überm Dorf hervorgewuchert war und vor dem Nachbarhaus Wurzeln geschlagen hatte, war abgesägt, mit Gärmasse Übergossen worden, bereits nachgedunkelt und starb nun ab. Ein scharfer, appetitlicher Duft stieg von ihm auf, und die Nachbarskinder, die sich um den Knorren versammelt hatten, rissen das rötlichbraune Fruchtfleisch heraus, stopften sich den Mund mit den saftigen, spritzenden Stücken voll. Als Candide vorbeikam, rief das älteste von ihnen mit vollem Mund: »Schweiger, Schweiger!« Doch die anderen fielen nicht mit ein – sie waren beschäftigt. Außer ihnen befand sich niemand auf der orangenen Straße, in deren hohem rotem Gras die Häuser versanken und die auch wieder düster wirkte und, weil die Sonne durchs Walddach sengte, von schwachen grünen Flecken bedeckt war. Vom Feld drang ein Singsang ungeordneter, gelangweilter Stimmen herüber: »He, he, he – nur zu, immer sä’, sä’ mal links, sä’ mal rechts…« Im Wald hallte das Echo wider.
Vielleicht war es aber auch gar nicht das Echo. Vielleicht waren es die Schatten.
Hinkebein hockte natürlich zu Hause und massierte sich das Bein.
»Setz dich«, sagte er freundlich zu Candide. »Ich hab’ hier schönes weiches Gras für die Gäste hingestreut. Man erzählt, daß du fortgehst?«
Wieder, dachte Candide, wieder geht alles von vorn los.
»Tut wohl immer noch weh?« fragte er, während er Platz nahm.
»Das Bein? Ach wo, es ist einfach angenehm so. Tut gut, wenn man drüberstreicht. Und wann willst du nun weg?«
»Na, wie wir’s abgesprochen haben. Wenn du mitkommst, von mir aus gleich übermorgen. Aber wie ich sehe, hast du keine Lust mitzukommen. Da muß ich mir erst jemanden suchen, der den Wald kennt.«
Hinkebein machte vorsichtig das Bein lang und sagte belehrend: »Von hier aus mußt du links abbiegen und direkt aufs Feld zugehen, immer am Feld entlang, an den zwei Steinen vorbei, dann siehst du schon den Weg, er ist nur wenig zugewachsen, weil es dort eine Menge Findlinge gibt. Dieser Weg führt an zwei Dörfern vorbei, das eine ist ausgestorben und von Pilzen überwuchert, so daß niemand mehr darin wohnt, im anderen dagegen leben Sonderlinge, dort ist zweimal das blaue Gras durchgegangen, seither sind sie krank, du brauchst sie gar nicht erst anzusprechen, sie begreifen sowieso nichts, es ist, als wären sie ihr Gedächtnis losgeworden. Hinter dem Dorf der Sonderlinge liegt dann rechter Hand deine Tönerne Lichtung. Du siehst also, du – brauchst keinerlei

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