Die Rekonstruktion des Menschen
da drängten sie sich alle zu einem Haufen zusammen, und es wurde furchtbar heiß, du weißt ja, wie heiß sie sind, in jener Nacht war aber kein Zipfelchen Mond zu sehen. Meine Mutter schubste mich sacht vorwärts, und ich kroch auf allen vieren fort, zwischen den Beinen der Leute hindurch, meine Mutter hab’ ich seither nicht mehr zu sehen bekommen…«
»Nawa«, sagte Candide, »du erzählst mir diese Geschichte ja schon wieder. Schon zweihundertmal hast du sie mir erzählt.«
»Na und, was ist dabei?« fragte Nawa erstaunt. »Du bist vielleicht seltsam, Schweiger. Was soll ich dir denn sonst erzählen? Etwas anderes weiß ich nicht, an etwas anderes erinnere ich mich nicht. Ich soll dir ja wohl nicht erzählen, wie wir vorige Woche einen Keller gegraben haben, du und ich, da warst du doch selbst dabei. Ja, wenn ich den Keller mit jemandem sonst gegraben hätte, mit Hinkebein zum Beispiel oder mit dem Schwätzer…« Sie lebte plötzlich auf. »Weißt du, Schweiger, das ist überhaupt ein Gedanke. Erzähl du mir doch, wie wir den Keller gegraben haben, mir hat das bisher noch niemand erzählt, es hat ja niemand sonst zugesehen…«
Candide hatte sich erneut ablenken lassen. Träge schaukelnd zog zu beiden Seiten das gelbgrüne Dickicht vorbei, im Wasser schniefte und seufzte es, und mit einem schwachen Summen flog ein Schwarm geschmeidiger heller Käfer vorbei wie sie zum Ansetzen berauschender Getränke verwandt wurden. Der Weg unter ihren Füßen war mal weich vom hohen Gras, mal hart von Schotter und zerbröckeltem Gestein. Gelbe, graue, grüne Flecke – nichts, woran sich der Blick hätte festhalten, nichts, was er sich hätte einprägen können. Dann bog der Pfad scharf nach links ab. Candide war einige Schritte gegangen, als er plötzlich zusammenzuckte und stehenblieb. Nawa verstummte mitten im Wort.
Am Wegrand, mit dem Kopf im Sumpf, lag ein großer Schatten. Arme und Beine waren weit gespreizt und unangenehm verrenkt, er lag völlig reglos da. Hingestreckt auf dem zerdrückten, von der Hitze gelb verfärbten Gras, bleich und wie breitgewalzt, man sah sogar von weitem, wie schrecklich er geschlagen worden war. Er erinnerte an Sülze. Candide ging vorsichtig seitlich um ihn herum. Ihm wurde unbehaglich. Der Kampf hatte gerade erst stattgefunden, man sah es an den niedergedrückten gelblichen Grashalmen, die sich zusehends wieder aufrichteten. Candide musterte aufmerksam den Weg. Spuren gab es jede Menge, aber er kannte sich nicht darin aus. Der Weg vor ihnen jedoch machte in unmittelbarer Nähe eine erneute Biegung, und wer konnte erraten, was dahinter war. Nawa schaute sich immer wieder zu dem Schatten um.
»Unsere waren das nicht«, sagte sie sehr leise. »Unsere schlagen nicht so zu. Faust droht zwar immer, bringt’s aber auch nicht fertig, er fuchtelt bloß mit den Armen ‘rum… Und die vom Weiler können das genausowenig… Laß uns kehrtmachen, Schweiger, bitte! Wenn’s nun die Mißgeburten sind? Es heißt, sie gehen hier um, selten zwar, aber immerhin. Laß uns lieber kehrtmachen… Weshalb hast du mich überhaupt zum Weiler mitgeschleppt? Hab’ ich ihn vielleicht noch nicht gesehen, den Weiler?«
Candide wurde wütend. Was sollte das bedeuten! Hundertmal war er diesen Weg gegangen und nie auf etwas gestoßen, das hätte im Gedächtnis behalten, überdacht werden müssen. Und jetzt, da endlich aufgebrochen wurde – nicht erst übermorgen, sondern bereits morgen –, hielt dieser einzige ungefährliche Weg plötzlich Gefahren bereit. Aber in die Stadt gelangte man nur durch den Weiler. Wenn man überhaupt in die Stadt gelangt, wenn die Stadt überhaupt existierte, führte der Weg durch den Weiler…
Candide kehrte zu dem Schatten zurück. Er stellte sich vor, wie Hinkebein, Faust und Schwanz, ununterbrochen schwatzend, prahlend und drohend, neben diesem Schatten von einem Bein aufs andre treten, dann aber, ohne in ihren Drohungen und Prahlereien innezuhalten, das Weite suchen würden, in Richtung Dorf. Er bückte sich und packte den Schatten bei den Beinen. Sie waren noch heiß, aber nicht mehr so, daß sie ihn verbrannten. Er stieß den schweren Körper mit einem Ruck in den Sumpf. Der Morast ließ ein Quatschern hören, ein Ächzen, und gab dann nach. Der Schatten verschwand, über das dunkle Wasser lief ein Kräuseln und verebbte schließlich.
»Nawa«, sagte Candide, »geh zurück ins Dorf.«
»Wie soll ich denn ins Dorf zurück«, erwiderte sie einigermaßen logisch, »wenn du nicht
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