Die Rekonstruktion des Menschen
Sumpf, und einige davon konnten sich bei aller Übertreibung als durchaus wahr erweisen.
Er hatte sich etwa fünfhundert Schritte vom Dorf entfernt, als ihn Nawa einholte. Er blieb stehen.
»Warum bist du ohne mich los?« fragte sie etwas außer Atem. »Ich hab’ dir doch oft genug gesagt, daß ich mit dir komme, ich bleib’ nicht allein in diesem Dorf, allein hab’ ich da nichts verloren, mich liebt da ohnehin niemand, du aber bist mein Mann und mußt mich mitnehmen; daß wir keine Kinder haben, bedeutet gar nichts, du bist trotzdem mein Mann, wie ich deine Frau bin; Kinder werden wir beide schon noch bekommen. Obwohl, um es ehrlich zu sagen, ich will voreist gar keine Kinder, hab’ nicht die geringste Vorstellung, wozu sie da sind und was wir mit ihnen anfangen sollen; ist doch egal, was der Dorfälteste und dieser Alte anfangen sollen; bei uns im Dorf war’s ganz anders: Wer wollte, hatte Kinder, und wer nicht wollte, hatte eben keine…«
»Ab nach Hause mit dir«, sagte Candide. »Wie kommst du überhaupt darauf, daß ich fortgehe? Ich geh’ doch bloß zum Weiler, bin Mittag wieder zurück…«
»Um so besser, ich begleite dich, und dann kehren wir Mittag gemeinsam zurück. Essen hab’ ich noch von gestern, ich hab’s so versteckt, daß es nicht mal der Alte findet…«
Candide ging weiter. Es war sinnlos zu diskutieren, sollte sie also mitkommen. Seine Stimmung hob sich sogar, er hätte sich mit irgendwem anlegen, den Knüppel schwingen, seine Wut und Langeweile, auch seine in vielen Jahren angespeicherte Ohnmacht an irgendwem auslassen mögen. An den Räubern. Oder an den Schatten – was war da für ein Unterschied? Sollte Nawa ruhig mitkommen. Feine Ehefrau, die keine Kinder wollte. Er holte kräftig mit dem Ast aus, ließ ihn auf einen feuchten Knorren am Wegrand niedersausen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren. Der Knorren zerfiel zu Staub, und der Knüppel fuhr durch ihn hindurch wie durch ein Nichts. Ein paar flinke graue Tierchen sprangen hervor und verschwanden mit einem glucksenden Laut im dunklen Wasser.
Nawa hüpfte neben ihm her, lief mal voran, blieb dann wieder ein Stück zurück. Von Zeit zu Zeit umklammerte sie Candides Arm mit beiden Händen, hing überaus zufrieden an ihm. Sie plapperte vom Mittagessen, das sie so geschickt vor dem Alten versteckt hatte, sprach davon, daß die wilden Ameisen um nichts in der Welt an dieses Essen herankämen, so gut hätte sie, seine Frau, es eingerichtet, erzählte dann, daß sie heute früh von einer giftigen Fliege geweckt worden wäre und daß er, der Schweiger, als sie gestern einschlafen wollte, bereits geschnarcht und im Traum unverständliche Wörter gemurmelt hätte. »Einfach verblüffend, Schweiger, wo du all diese Wörter her hast, niemand im Dorf kennt solche Wörter, nur du kennst sie, kanntest sie schon immer, schon damals, als du so furchtbar krank warst…«
Candide hörte ihr Geplapper und hörte es auch wieder nicht, in seinem Hirn herrschte das übliche unerträgliche Getön, er schritt aus und dachte stumpfsinnig, wortreich darüber nach, warum er über nichts nachdenken konnte; vielleicht lag’s an den ständigen Impfungen, mit denen man sich im Dorf befaßte, wenn man sich nicht gerade mit Geschwätz abgab, vielleicht lag’s aber auch an etwas anderem… Vielleicht wirkte sich dieses Leben im Halbschlummer, diese ganze, nicht einmal urwüchsige, sondern einfach pflanzenhafte Existenzweise auf ihn aus, die er seit jenen unsagbar weit zurückliegenden Zeiten führte, seit damals, als ihr Hubschrauber mit vollem Tempo in eine unsichtbare Barriere hineingeflogen, mit gebrochenen Rotoren zur Seite abgekippt und wie ein Stein in den Sumpf gestürzt war… Ich muß seinerzeit aus der Kabine geschleudert worden sein, dachte er. Es hat mich wohl aus der Kabine geschleudert, dachte er zum vielleicht tausendsten Male. Bin mit dem Kopf irgendwo aufgeprallt und hab’ mich seither nicht wieder erholt… Hätte es mich aber nicht herausgeschleudert, wäre ich mit dem Flugzeug im Sumpf versackt, es ist also noch gut, daß es mich herausgeschleudert hat… Plötzlich kam ihm die Erleuchtung, daß er hier ja Schlußfolgerungen zog, und er freute sich. Er hatte immer geglaubt, die Fähigkeit zu Schlußfolgerungen längst eingebüßt zu haben, stets nur das eine wiederholen zu können: Übermorgen, übermorgen…
Er sah Nawa an. Die junge Frau hing an seinem linken Arm, sah ihn von unten herauf an und berichtete voller Hingabe: »…
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