Die Rekonstruktion des Menschen
und wir können dich dann rausschleppen…«
Candide hörte hinter sich lautes Getrappel und auch dort den Ruf: »Hu-u-u, hu-u-u!« Die drei vor ihm warteten. Da stürzte er sich den Knüppel quer vor der Brust, voller Wucht auf sie und warf sie alle drei zu Boden. Freilich fiel er auch selbst hin. Vor seinen Augen verschwamm alles. Jemand heulte wieder voller Schrecken: »Ich ertrinke!« Ein bärtiges Gesicht kam nahe, und Candide schlug blind mit dem Knüppel zu. Der Knüppel zerbrach. Candide warf den Stumpf fort und sprang in den Sumpf.
Ein Knorren glitt unter seinem Fuß weg, Candide hätte bald das Gleichgewicht verloren doch er federte sofort auf den nächsten und gelangte so, mit Mühe von einem Stamm zum anderen springend und schwarzen, stinkenden Schlamm verspritzend, vorwärts. Nawa hatte ein Siegesgeschrei angestimmt, sie schickte ihm schrille Pfiffe entgegen. Hinter ihm aber ertönte wütendes Stimmengewirr: »Was habt ihr da gemacht, ihr löchrigen Knorrpfoten?« – »Und du, bist du vielleicht besser?« – »Wir haben das Mädchen entwischen lassen, jetzt wird sie draufgehn…« – »Muß doch verrückt sein, der Kerl, sich so auf uns zu stürzen!« – »Der hat mir die ganze Kleidung zerrissen, und wie fein die war, nicht zu bezahlen, so ‘ne Kleidung, er aber hat sie mir zerrissen, dabei war er das vielleicht noch nicht mal, du warst es, du hast sie mir zerrissen…« – »Genug geschwafelt jetzt, wir müssen sie einholen… seht doch, sie türmen, ihr aber schwafelt ‘rum!« – »Und du, bist du vielleicht besser?« – »Er hat mir eins aufs Bein gegeben, seht ihr? Er hat mich am Knie erwischt, und wie er mich erwischt hat, ich versteh’ das gar nicht, ich war’s doch, der ausgeholt hat…« – »Wo ist eigentlich Siebenauge? He, Jungs, Siebenauge ertrinkt!« – »Er ertrinkt! Tatsächlich, er ertrinkt… Siebenauge ertrinkt, sie aber schwafeln ‘rum!«
Candide blieb neben Nawa stehen, er suchte gleichfalls an den Lianen Halt, sah und hörte schwer atmend, wie die seltsamen Leute dort, die sich, mit den Armen fuchtelnd, zu einem Grüppchen zusammengeschlossen hatten, ihren Siebenauge an Kopf und Beinen aus dem Sumpf zerrten. Glucksen und Krächzen schallte herüber. Zwei der Räuber allerdings waren bereits auf dem Weg zu Candide, sie tasteten mit Stöcken den Morast ab und wateten bis zu den Knien im schwarzen Schlamm. Die Knorren umgingen sie. Wieder alles Schwindel, man kann ja doch durch den Sumpf waten, dachte Candide. Dabei wird immer erzählt, es gäbe keinen Weg außer der Straße. Sie drohen einem mit den Räubern, sie jagen einem Angst ein, na, da haben sie sich ja die Richtigen ausgesucht…
Nawa zog ihn am Arm.
»Komm, Schweiger«, sagte sie. »Was stehst du noch ‘rum? Komm schnell. Oder willst du dich noch mal prügeln? Dann wart einen Augenblick, ich such’ dir einen passenden Stock. Mit dem kannst du die beiden dort verprügeln, die andern kriegen dann sicherlich Angst. Wenn sie jedoch keine Angst kriegen, werden sie dich bestimmt packen, du bist ja allein, während sie… eins, zwei, drei, vier Mann sind…«
»Wo soll’n wir denn hin?« fragte Candide. »Kommen wir hier beim Weiler ‘raus?«
»Bestimmt«, sagte Nawa. »Ich wüßte nicht, wo wir sonst rauskommen sollten.«
»Dann geh du voran«, sagte Candide. Er war nun wieder etwas zu Atem gekommen. »Zeig den Weg.«
Nawa sprang leichtfüßig in den Wald hinein, ins Dickicht, ins grüne Pflanzengewirr.
»Ich hab’ zwar nicht die geringste Ahnung, wie wir gehen müssen«, sagte sie im Laufen, »aber ich war schon mal hier, vielleicht sogar nicht bloß einmal, sondern öfter. Ich bin hier mal mit Hinkebein langgegangen, als du noch nicht da warst… Oder nein, du warst schon da, nur hattest du damals noch kein Gedächtnis, hast nichts begriffen, konntest nicht sprechen, hast uns bloß angeschaut wie ein Fisch, da sind sie dann zu mir gekommen, und ich hab’ dich gepflegt, aber das weißt du wahrscheinlich nicht mehr, weißt nichts mehr…«
Candide sprang hinter ihr her, bemüht, regelmäßig zu atmen und in der Spur zu bleiben. Von Zeit zu Zeit blickte er sich um. Die Räuber waren noch nicht weit weg.
»Mit Hinkebein war ich hier«, fuhr Nawa fort, »als sich die Räuber Fausts Frau geschnappt hatten, Hinkebeins Tochter. Er hat mich damals immer mitgeschleppt, wollte mich vielleicht eintauschen oder aber auch nur als Ersatz für seine Tochter haben, jedenfalls mußt’ ich immer mit ihm in den Wald, seine
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