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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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entwischt! Warum habt ihr den Schwätzer laufenlassen?
Candide wußte, daß es jetzt noch eine Weile so weitergehen würde, und wollte ein Gespräch mit Schwanz beginnen, doch Schwanz war nicht nach Unterhaltung zumute. Schwanz schrie, sich vor Anstrengung fast überschlagend: »Besetzung! Und weshalb dann die Schatten? Über die Schatten schweigt ihr euch aus! Weil ihr nämlich selber nicht wißt, was ihr von ihnen halten sollt, deshalb schwafelt ihr dauernd was von Besetzung…«
Man diskutierte lautstark über die Schatten, dann über die Pilzdörfer, doch schließlich waren die Leute ermattet und wurden stiller. Sie wischten sich den Schweiß von den Gesichtern, setzten sich nur noch kraftlos gegen die andern zur Wehr, und bald darauf wurde klar, daß fast alle schwiegen, lediglich der Alte und der Schwätzer stritten miteinander. Da besannen sich alle. Sie drückten den Schwätzer zu Boden, stürzten sich auf ihn, stopften ihm Blattwerk in den Mund. Der Alte redete eine Zeitlang weiter, verlor dann aber an Stimme und war kaum noch zu hören. Dann erhob sich, zerzaust, der Vertreter vom Weiler, preßte die Hände an die Brust, sah sich suchend nach allen Seiten um und äußerte mit gebrochener Stimme die Bitte, man möge ihnen den Schwätzer doch nicht in den Weiler schicken, sie brauchten den Schwätzer nicht, hundert Jahre hätten sie ohne den Schwätzer gelebt und würden weitere hundert Jahre ohne ihn leben, man möge die Braut lieber ins Dorf nehmen, der Weiler würde sich auch nicht mit der Mitgift lumpen lassen, sie würden schon sehen… Die Diskussion hätte von neuem aufflammen können, doch hatte niemand mehr die Kraft dazu – man versprach, über die Sache nachzudenken und später zu entscheiden, um so mehr, als das Ganze ja nicht brenne.
Die Leute gingen auseinander, um Mittag zu essen. Schwanz nahm Candide beim Arm und schleppte ihn ein Stück fort unter einen Baum.
»Also wann gehen wir?« fragte er. »Das Dorf steht mir bis zum Hals, ich will in den Wald, sonst verlier’ ich vor Langeweile den Verstand… Wenn du nicht gehst, sag’s rundheraus, dann geh’ ich allein, ich werde Faust oder Hinkebein überreden mitzukommen…«
»Übermorgen geht’s los«, sagte Candide. »Hast du Proviant zusammengepackt?«
»Ich hatte welchen zusammengepackt, hab’ ihn aber inzwischen aufgegessen, ich hab’ nicht die Geduld, dauernd das Essen anzuschaun, wie’s umsonst rumsteht und von niemandem verzehrt wird außer vom Alten, und dieser Alte ist ja einfach nicht zu ertragen, ich werd’ ihm noch den Hals umdrehn, wenn ich nicht bald von hier weggeh… Was meinst du, Schweiger, wer ist wohl dieser Alte, warum frißt er sich bei allen durch, und wo wohnt er überhaupt? Ich hab’ schon ‘ne Menge erlebt, bin in zehn Dörfern gewesen, bei den Sonderlingen war ich und sogar bei den Siechen, hab’ bei ihnen übernachtet und war’ vor Angst fast irre geworden, doch einen Kerl wie den Alten hab’ ich nirgends zu sehen bekommen, der ist einmalig, und deshalb dulden wir ihn wohl auch, ohne ihn zu verprügeln, aber ich hab’ einfach nicht mehr die Geduld zuzusehen, wie er Tag und Nacht in meinen Töpfen herumstochert – er schlägt sich bei mir voll und nimmt auch noch was mit, dabei hat schon mein Vater mit ihm geschimpft, bevor die Schatten über ihn hergefallen sind… Wie stopft er das bloß alles in sich ‘rein? Ist doch nur Haut und Knochen der Kerl, kaum Platz im Bauch, trotzdem putzt er zwei Töpfe aus und nimmt noch zwei mit, bloß die Töpfe bringt er nie zurück… Weißt du, Schweiger, vielleicht haben wir nicht nur den einen Alten, vielleicht sind’s zwei oder gar drei? Zwei schlafen, und einer arbeitet. Frißt sich voll und geht den zweiten wecken, während er sich selbst hinhaut…«
Schwanz begleitete Candide bis zu dessen Haus, lehnte aber ein Mittagessen ab – aus Taktgefühl. Er sprach noch etwa fünfzehn Minuten darüber, wie die Fische im See des Dickichts durch ein Fingerwinken herbeigelockt werden, erklärte sich einverstanden, am nächsten Tag bei Hinkebein vorbeizugehn und ihn an den Aufbruch in die Stadt zu erinnern, stellte fest, daß der Horcher in Wirklichkeit gar kein Horcher, sondern einfach ein kranker Mensch sei und daß die Schatten nur deshalb Frauen für sich als Nahrung fingen, weil die Männer zu zähes Fleisch, sie aber, die Schatten, keine Zähne hätten. Als er noch versprochen hatte, für den übernächsten Tag neuen Proviant zusammenzupacken, den Alten aber

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