Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
Vom Netzwerk:
mitleidlos davonzujagen, verabschiedete er sich schließlich.
Candide holte erst einmal tief Luft und blieb, bevor er ins Haus trat, ein Weilchen kopfschüttelnd stehen. Vergiß bloß nicht, Schweiger, daß du morgen zum Weiler mußt, und zwar gleich früh, vergiß es nicht: nicht ins Dickicht, nicht zur Tönernen Lichtung, sondern zum Weiler… Aber wieso, Schweiger, willst du unbedingt zum Weiler? Du solltest dich lieber ins Dickicht aufmachen, da gibt’s viele Fische… ist doch ganz vergnüglich… Zum Weiler, Schweiger, vergiß das nicht, zum Weiler, Candide, vergiß das nicht… morgen, gleich früh, zum Weiler… die Burschen überreden, zu viert schafft ihr’s nämlich nicht in die Stadt… Er merkte nicht, daß er das Haus betreten hatte.
Nawa war noch nicht da, am Tisch aber saß der Alte und wartete darauf, daß man ihm etwas zu essen gab. Er schielte Candide wütend an und sagte: »Du gehst vielleicht langsam, Schweiger, ich war inzwischen in zwei Häusern – überall ißt man schon zu Mittag, nur bei euch nicht… Deshalb habt ihr wahrscheinlich auch keine Kinder, weil ihr so langsam geht und nie zu Hause seid, wenn’s Zeit zum Mittagessen ist…«
Candide ging geradenwegs auf ihn zu, blieb dann einen Augenblick nachdenklich stehen. Der Alte sagte: »Wie lange wirst du denn bis zur Stadt brauchen, wenn du nicht mal rechtzeitig zum Mittagessen da bist? Bis zur Stadt soll es sehr weit sein, ich aber weiß jetzt alles über dich, weiß, daß ihr in die Stadt wollt, und frage mich nur, wie du da hinkommen wirst, wenn du schon bis zum Eßnapf einen ganzen Tag brauchst und es nicht mal schaffst… Da werd’ ich wohl mit euch gehen müssen, ich bring’ euch schon hin, muß nämlich schon seit langem in die Stadt, nur kenne ich den Weg nicht, hin aber muß ich, um meine Pflicht zu erfüllen – über alles und jedes an entsprechender Stelle zu berichten.«
Candide packte ihn unter den Achseln und hob ihn mit einem Ruck vom Tisch hoch. Der Alte war so verblüfft, daß er verstummte. Candide trug ihn mit vorgestreckten Armen aus dem Haus, stellte ihn auf den Weg und wischte sich die Hände mit Gras ab. Der Alte war wieder zu sich gekommen.
»Vergeßt bloß nicht, Proviant für mich mitzunehmen«, rief er – Candide hinterher. »Nehmt etwas Gutes und auch möglichst viel für mich mit, denn ich geh’ meine Pflicht erfüllen, während ihr bloß zu eurem Vergnügen geht, und außerdem dürft ihr es nicht einmal.«
Candide kehrte ins Haus zurück, setzte sich an den Tisch und legte den Kopf auf die geballten Fäuste. Und trotz allem, dachte er, übermorgen gehe ich fort. Ich darf das auf keinen Fall vergessen: übermorgen. Übermorgen, dachte er. Übermorgen…
Zweites Kapitel
    Candide brach im Dunkeln auf, um gegen Mittag wieder zurück zu sein. Bis zum Weiler waren es an die zehn Kilometer; er kannte den Weg, der gut festgetreten und vom versprühten Grastod voller kahler Flecken war. Der Weg galt als ungefährlich. Zu seinen beiden Seiten zogen sich warme, abgrundtiefe Sümpfe hin, aus deren stinkendem Rostwasser verfaulte schwarze Äste ragten. Auch die klebrigen Hüte riesiger Giftpilze erhoben sich dort gleich runden, glitzernden Kuppeln, und unmittelbar am Wegrand stieß man auf verlassene, zertretene Gehäuse von Wasserspinnen. Was sich in den Sümpfen selbst abspielte, war vom Weg aus nur schwer zu erkennen: Aus dem dichten Geflecht der Baumkronen baumelten in dikken grünen Kolonnen Myriaden von Schnüren, spinnwebfeinen Fäden herab, die mit ihren Wurzeln hastig in Richtung Morast fortstrebten. Das gierige, dreiste Grün stand wie eine Nebelwand, ließ nur Geräusche und Gerüche durch. Von Zeit zu Zeit löste sich in diesem gelbgrünen Halbdämmer etwas und fiel mit einem saftigen Aufklatschen, dem ein langgezogener Laut folgte, zu Boden. Der Sumpf gab ein Seufzen von sich, ein Raunen, Quatschern, dann war wieder Stille. Eine Minute später aber drang der atemberaubende Gestank in Unruhe versetzter Abgründe durch die grüne Wand auf den Weg hinaus. Es hieß, daß diese Abgründe von Menschen nicht zu passieren wären, wohl aber von den Schatten, die überall umgehen würden, schließlich wären sie nicht von ungefähr Schatten – der Sumpf nähme sie nicht an. Candide brach sich für alle Fälle einen dicken Ast ab. Nicht, daß er sich vor den Schatten gefürchtet hätte – einem Mann waren die ja in der Regel nicht gefährlich –, doch gab es allerlei Gerüchte über das Leben in Wald und

Weitere Kostenlose Bücher