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Die Rekonstruktion des Menschen

Die Rekonstruktion des Menschen

Titel: Die Rekonstruktion des Menschen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erik Simon (Hrsg)
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hilflos um, und schließlich kam ihm eine Idee, die vielleicht weiterhelfen konnte.
»Hört mal, Leute«, sagte er bittend, »nehmt uns beide.«
Die Räuber kamen gemächlich näher, und der Anführer musterte ihn von Kopf bis Fuß.
»Nein«, sagte er. »Was sollen wir mit dir anfangen? Ihr Dörfler taugt doch zu nichts, habt kein bißchen Mut, unverständlich, wozu ihr überhaupt lebt, ihr seid doch mit bloßen Händen zu schnappen. Wir brauchen dich nicht, Väterchen, wenn du auch irgendwie anders sprichst als deinesgleichen, keine Ahnung, was für ein Mensch du bist, trotzdem, marschier zu deinem Weiler, deine Tochter aber überlaß uns.«
Candide holte tief Luft, packte den Knüppel fest mit beiden Händen und sagte leise zu Nawa: »Also los, Nawa, lauf! Lauf und schau dich nicht um, ich halt’ sie auf.«
Wie dumm, dachte er. Einmalig dumm. Er sah den Schatten vor sich, der mit dem Kopf im dunklen Wasser gelegen hatte, breitgewalzt wie Sülze, dennoch hob er den Knüppel.
»He, he!« rief der Anführer.
Die sieben Männer stürzten, sich schubsend und ausrutschend, auf ihn zu. Für Sekunden hörte Candide noch Nawas Füße über den Boden klatschen, dann war er anderweitig beschäftigt. Er hatte Angst und schämte sich deswegen, doch die Angst verging sehr rasch, denn unvermutet stellte sich heraus, daß es unter den Räubern nur einen einzigen ernst zu nehmenden Kämpfer gab, ihren Anführer. Während Candide seine Schläge abwehrte, sah er, daß die übrigen Männer nur drohend, doch sinnlos mit den Knüppeln herumfuchtelten, sich gegenseitig behinderten, von den eigenen gewaltigen Schlägen taumelten und häufig innehielten, um in die Hände zu spucken. Einer von ihnen heulte plötzlich verzweifelt auf: »Ich ertrinke!« und klatschte geräuschvoll in den Sumpf, zwei andere ließen sogleich ihre Knüppel fahren und versuchten ihn herauszuziehen. Der Anführer fuhr zwar krächzend und stampfend in seiner Attacke fort, als Candide ihn aber zufällig an der Kniescheibe traf, ließ auch er seinen Knüppel fallen, zischte auf und ging in die Hocke. Candide sprang zurück.
Zwei der Räuber zerrten an dem Ertrinkenden, der jedoch endgültig versackte – sein Gesicht verfärbte sich blau. Der Anführer saß in der Hocke und untersuchte besorgt sein Knie. Die restlichen drei Räuber drängten sich mit erhobenen Knüppeln hinter seinem Rücken zusammen, sie schauten über seinen Kopf hinweg gleichfalls auf die Verletzung.
»Du bist ein Dummkopf, Väterchen«, sagte der Anführer vorwurfsvoll. »Wirklich, verhältst dich wie ein Dorftrottel. Was bist du bloß für ein komischer Kauz… Kapierst du denn nicht, wo dein Vorteil liegt, du unerschrockener Recke…«
Candide zögerte nicht länger. Er drehte sich um und rannte aus Leibeskräften hinter Nawa her. Die Räuber schrien ihm erbost und spöttisch Beschimpfungen nach, der Anführer heulte drohend: »So haltet ihn doch! Haltet ihn!« Sie jagten ihm aber nicht hinterher, und das beunruhigte Candide. Er empfand Enttäuschung und Verdruß, er versuchte im Laufen zu begreifen, wie diese plumpen, unbeweglichen und im Grunde nicht bösen Leute ganze Dörfer in Schrecken versetzen und sogar – was noch unverständlicher war – Schatten vernichten konnten, die als gewandte und rücksichtslose Kämpfer galten.
Bald darauf entdeckte er Nawa: Das Mädchen rannte in etwa dreißig Schritt Entfernung vor ihm her, wobei ihre nackten Fersen hart gegen die Erde stießen. Er sah, wie sie hinter einer Biegung verschwand und plötzlich wieder hervorschnellte – sie sauste auf ihn zu, erstarrte dann aber für Bruchteile von Sekunden und scherte seitlich aus, direkt in den Sumpf hinein; sie sprang von Baumknorren zu Baumknorren, so daß das Wasser nur so spritzte. Candide blieb fast das Herz stehn.
»Halt!« rief er keuchend. »Bist du verrückt geworden? Du sollst stehenbleiben!«
Nawa hielt unverzüglich inne und drehte sich zu ihm um; sie klammerte sich an einer herabhängenden Liane fest. Und Candide bemerkte, daß hinter der Wegbiegung hervor drei weitere Räuber auf ihn zutraten und gleichfalls stehenblieben. Dabei starrten sie mal ihn, mal Nawa an.
»Schweiger!« rief Nawa gellend. »Verprügle sie und komm zu mir! Keine Angst, du gehst hier nicht unter! Schlag sie, schlag auf sie ein! Mit dem Stock! Hu-u-u, ho-o-o!«
»Hör mal«, sagte einer der Räuber in fürsorglichem Ton, »halt du dich mal lieber fest, statt so rumzuschreien, halt dich fest, sonst fällst du bloß noch,

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