Die Rekonstruktion des Menschen
Nawa. »Soll ich dir einen Stock suchen, Schweiger? Soll ich?«
»Nein«, murmelte er. »Nicht nötig… Er ist zu schwer…«
Er öffnete die Augen und lauschte. Die Räuber waren ganz nah, man hörte sie keuchen und durchs Dickicht stapfen. Doch lag in ihrem Getrappel keinerlei Forschheit – das Laufen fiel ihnen wohl genauso schwer.
»Gehn wir weiter«, sagte Candide.
Sie kamen an einem Streifen weißen gefährlichen Mooses vorbei, dann an einem Streifen roten gefährlichen Mooses, und wieder begann ein Morast, auf dessen unbeweglich dickem Wasser sich gewaltige weiße Blüten mit einem unangenehmen Fleischgeruch breitmachten. Aus jeder dieser Blüten aber lugte ein graugesprenkeltes Tier hervor und schaute den beiden aus Stielaugen nach.
»Du mußt kräftiger zutreten, Schweiger«, sagte Nawa geschäftig, »sonst saugt sich noch irgendein Vieh an dir fest, und du kriegst es um nichts in der Welt mehr los. Denk ja nicht, daß sich keins festsaugt, bloß weil sie dir mal ‘ne Spritze verpaßt haben. Und sie sich’s festsaugt. Später verreckt’s natürlich, davon wird dir dann aber auch nicht leichter…«
Der Morast war plötzlich zu Ende, und die Gegend begann steil anzusteigen. Sie kamen nun an hohem gestreiftem Gras mit scharfen, schneidenden Rändern vorbei. Candide sah sich um und erblickte die Räuber. Sie blieben unerklärlicherweise stehen. Standen unerklärlicherweise bis zu den Knien im Morast und schauten ihnen, auf ihre Stöcke gestützt, hinterher. Sie sind erschöpft, dachte Candide, auch sie sind erschöpft. Einer der Räuber hob die Hand, machte eine einladende Geste und rief: »So kommt doch herunter, was soll das?«
Candide drehte sich wieder um und folgte Nawa. Nach dem Sumpf fiel das Laufen auf festem Grund sogar bergan leicht. Candide drehte sich ein letztes Mal um. Die Räuber standen noch immer im Sumpf, im Schlick voller Blutegel, sie waren nicht mal aufs Trockene gegangen. Als sie bemerkten, daß er sich umblickte, winkten sie erneut verzweifelt mit den Armen und schrien wirr durcheinander; es war nur schwer zu verstehen.
Sie schienen wohl »Zurück!« zu rufen. »Zurü-ück! Wir tu-un euch nichts! Ihr kommt u-um, ihr Dummköpfe!«
So schnell geht das nicht, dachte Candide schadenfroh. Ihr seid selbst Dummköpfe, wenn ihr meint, daß ich euch glaube. Ich hab’ lange genug geglaubt… Nawa war bereits hinter den Bäumen verschwunden, und er folgte ihr hastig.
»Kommt zurü-ü-ück! Wir lassen euch frei-i-i!« schrie der Anführer.
Sie sind wohl doch nicht so erschöpft, wenn sie noch derart brüllen können, dachte Candide flüchtig und überlegte sich gleich darauf, daß sie jetzt erst mal Land gewinnen mußten. Land gewinnen, um sich dann hinzusetzen, sich zu erholen und von Blutegeln und Zecken zu befreien.
Drittes Kapitel
Es war schon seltsam, das Dorf. Als sie aus dem Wald heraustraten und es unten im Talkessel liegen sahen, waren sie vor allem von der Stille beeindruckt, einer Stille allerdings, über die man sich nicht recht freuen konnte. Das Dorf hatte die Form eines Dreiecks, genau wie die große Lichtung, auf der es sich befand – der geräumige lehmig-kahle Flecken ohne einen Grashalm, einen einzigen Busch schien wie aus dem Wald herausgebrannt und anschließend glattgetrampelt, ganz und gar düster und durch die ineinander verschlungenen Kronen gewaltiger Bäume gegen den Himmel abgeschirmt.
»Dieses Dorf gefällt mir nicht«, erklärte Nawa. »Hier kriegt man wahrscheinlich nicht mal was zu essen. Was kann’s bei denen schon zu beißen geben, wenn sie nicht mal ein Feld haben, sondern weit und breit bloß Lehm. Die Leute hier sind bestimmt Jäger, sie fangen alle möglichen Tiere und essen sie, da wird’s einem ja schon schlecht, wenn man dran denkt…«
»Vielleicht sind wir hier zu den Sonderlingen geraten?« sagte
Candide. »Vielleicht ist das die Tönerne Lichtung?« »Wie können das hier die Sonderlinge sein? Das Dorf der
Sonderlinge ist ein Dorf wie jedes andere, so wie unsers, nur
daß dort eben Sonderlinge wohnen… Hier dagegen – wenn du
nur die Stille nimmst, und Leute sind auch nicht zu sehen, noch
nicht mal Kinder, das heißt, die Kinder könnten schon schlafen
gegangen sein… Aber wieso sieht man dann keine Leute,
Schweiger? Laß uns lieber nicht in dieses Dorf gehen, es gefällt mir ganz und gar nicht…«
Die Sonne war am Untergehen, und das Dorf zu ihren Füßen
sank in Halbdämmer. Es sah irgendwie leer aus, nicht verwahrlost oder verlassen,
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