Die Rekonstruktion des Menschen
Tochter hat ihm sehr gefehlt…«
Die Lianen hafteten an den Armen, peitschten das Gesicht, ihre abgestorbenen Ranken verhakten sich in den Kleidern, gerieten einem zwischen die Beine. Von oben fielen Insekten und aller möglicher Schmutz herab, hin und wieder stürzte auch etwas unförmig Schweres herunter und blieb dicht über einem im grünen Geschling schaukelnd hängen. Durch das Geflecht der Lianen schimmerten mal rechts, mal links klebrige lilafarbene Knollen auf – es mußten Pilze, Früchte oder die Nester unbestimmter scheußlicher Tiere sein.
»Hinkebein behauptete immer, daß hier irgendwo ein Dorf sein müßte…« Nawa sprach mühelos beim Laufen, so als würde sie gar nicht laufen, sondern still im Bett liegen: Man merkte sofort, daß sie keine Hiesige war, die Einheimischen waren nicht so gut zu Fuß. »Nicht unser Dorf und auch nicht der Weiler, sondern ein anderes, er hat mir auch den Namen gesagt, aber ich hab’ ihn vergessen, ist doch schon lange her, du warst damals noch nicht da… oder doch, du warst schon da, hast nur nichts begriffen, und dann kamen sie zu mir… Hör mal, du mußt durch den Mund atmen, wenn du läufst, nicht durch die Nase, dann kannst du besser reden, kommst nicht so schnell außer Atem, und wir müssen ja noch lange laufen, sind noch nicht einmal an den Wespen vorbei, wo wir unheimlich rennen müssen, aber wer weiß, vielleicht sind die Wespen inzwischen gar nicht mehr da… Die Wespen gehörten zu ebenjenem Dorf, in dem es freilich, wie Hinkebein sagte, schon lange keine Leute mehr gibt, dort ist bereits die Besetzung eingetreten, sagt er, so daß es gar keine Leute mehr gibt… Nein, Schweiger, da verwechsle ich was, er muß das von einem anderen Dorf gesagt haben…«
Candide begann durch den Mund zu atmen, und das Laufen fiel ihm nun leichter. Sie befanden sich jetzt im allerdichtesten Gestrüpp, gewissermaßen im Zentrum des Dickichts. So weit hatte, sich Candide bisher nur ein einziges Mal vorgewagt, damals, als er sich huckepack auf einen Schatten schwang, um so zu dessen Herren zu gelangen. Der Schatten war im Galopp davongerannt, er glühte wie ein kochendheißer Teekessel, und Candide, der vor Schmerzen die Besinnung verlor, war in den Dreck gestürzt. Danach hatte er sich noch lange mit Brandwunden an Händen und Brust herumgequält.
Es wurde immer dunkler. Der Himmel war schon nicht mehr auszumachen, und die Schwüle nahm zu. Dafür wurden die offenen Wasserstellen immer seltener, sie wurden von riesigen Flächen roten und weißen Mooses abgelöst. Das Moos war weich, kühl und federte stark, das Laufen darauf war angenehm.
»Laß uns… ausruhn…«, keuchte Candide.
»Wo denkst du hin, Schweiger!« sagte Nawa. »Hier dürfen wir nicht ausruhn. Wir müssen dieses Moos so schnell wie möglich hinter uns lassen, es ist gefährlich. Hinkebein sagte immer, daß das hier gar kein Moos ist, sondern eine Art Tier, so was wie eine Spinne. Du streckst dich drauf aus, schläfst ein und wachst nie wieder auf – so sieht’s mit diesem Moos aus; sollen sich doch die Räuber drauf ausruhn, bloß die wissen wahrscheinlich, daß man das nicht darf, und wenn nicht, wär’s auch nicht übel…«
Sie sah Candide an und verlangsamte nun doch das Tempo. Candide schleppte sich zum nächsten Baum, lehnte sich mit dem Rücken gegen ihn, mit dem Nacken, mit seinem ganzen Gewicht, und schloß die Augen. Er hatte großes Verlangen, sich zu setzen, hinfallen zu lassen, doch er hatte Angst. Er hämmerte sich zwar ein ums andre Mal ein: Das ist bestimmt gelogen, auch die Sache mit dem Moos ist gelogen, trotzdem hatte er Angst. Sein Herz schlug wild, er spürte die Beine nicht mehr, und seine Lungen schienen bei jedem Atemzug auseinanderzuplatzen, sich schmerzhaft im Brustinnern zu verteilen. Die ganze Welt kam ihm klebrig vor und salzig von Schweiß.
»Und wenn sie uns einholen?« hörte er wie durch Watte Nawas Stimme. »Was tun wir wenn sie uns einholen, Schweiger? Du bist ja zu nichts mehr zu gebrauchen, kannst dich wahrscheinlich nicht mal mehr prügeln.«
Er wollte sagen: Doch, ich kann, bewegte aber nur die Lippen. Er hatte keine Furcht mehr vor den Räubern, hatte vor nichts mehr Furcht. Er hatte nur Angst, sich zu bewegen und sich ins Moos zu legen. Immerhin war das der Wald, soviel darüber auch zusammengelogen wurde, es war der Wald, das hatte er sich gut eingeprägt, das vergaß er nie, selbst wenn er alles andere vergaß.
»Du hast ja nicht mal mehr einen Stock«, sagte
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